(Beispiele im Podcast Nr.82 mit Virologe Drosten, S. 5-11 | PLURV-Plakate zum Download )

„The uncomfortable truth is that knowledge alone won’t protect you. Having higher levels of education can actually make you more vulnerable to cognitive traps like confirmation bias and overconfidence.“

Caroline Orr Bueno, The Psychology of Deception (25.07.25)

Dieses Kapitel umfasst zwei extreme Standpunkte in und nach der Pandemie. Die eine Gruppe hat SARS-CoV2 verharmlost, hielt die Schutzmaßnahmen für übertrieben und leugnet die Folgen der Pandemie. Die andere Gruppe übertreibt die Folgen von SARS-CoV2, sieht die Welt immer noch in einer Pandemie und damit jede Legitimation gegeben, weiterhin (strenge) Schutzmaßnahmen zu verhängen. Ich möchte beide Gruppen nicht gleichgesetzen, denn Gruppe 2 verfolgt das hehre Ziel, Leben zu schützen, bedenkt dabei aber nicht alle Folgen ihrer Herangehensweise. Gruppe 1 hingegen hat stark ideologisch gefärbte Gründe, sei es durch esoterischen Lebensstil oder rechte Propaganda, und kümmert sich nicht um das zerstörte Leben, hätte man ihren Ansatz weiterverfolgt.

Die Aufarbeitung der Desinformation in der Pandemie und danach zeigt leider auch, dass man selbst anfällig ist, auf Pseudoexperten gesetzt zu haben (z.B. auf Twitter sehr präsente Wissenschaftler, die aber keine Expertise auf dem Gebiet haben, über das sie viel schreiben), Rosinenpickerei betrieben zu haben, etwa nur Fachartikel zu zitieren, die die eigene Meinung unterstützen, aber gleichzeitig den Limitation/Discussion-Teil wegzulassen. Selbst Verschwörungsmythen („die Regierung lässt die Alten sterben, um das Gesundheitssystem zu sanieren“ oder „die AfD gewinnt, weil Covid die Gehirne schädigt„) finden sich nicht nur auf Seiten der Coronaleugner.

Bill Hanage, Public Health Assistenzprofessor in Havard, räumte einmal mit der falschen Vorstellung auf, auf Twitter würden sich nur relevante Experten befinden.

  • Wer viel schreibt, hat nicht zwangsläufig die besten Argumente, sondern womöglich einfach am meisten Zeit (gilt auch für frühe Buchautoren in der Pandemie)
  • Personen mit ausgefalleneren Qualifikationen (z.B. „Evolutionsbiologe mit Expertise für Spinnenmilben“) haben nicht immer Recht und nicht jede laute Stimme erzählt die Wahrheit
  • Wer sich gegen den wissenschaftlichen Mehrheitskonsens auflehnt, ist nicht zwingend ein Galileo (z.b. jemand, der SARS-CoV2 mit AIDS gleichsetzt)
  • Wer öfter mal sagt „ich weiß es nicht“ oder „ich lag falsch“, ist vertrauenswürdiger als solche, die das nie tun.
  • Für professionelle Wissenschaftlicher sind Publikationen wichtiger als Likes oder Retweets. Wer seine Ideen vor allem über Social Media vorantreibt, macht sich unseriös.
  • Benehmen ist wichtig: Wer wiederholt grob ist zu denen, die Gegenargumente bringen, oder Kritiker blockt und auf seinem Standpunkt beharrt, macht sich unseriös

Was jedenfalls gar nicht geht, ist die bewusste Auslassungen von Limitationen eines Fachartikels oder gar die Manipulation von Grafiken, etwa durch falsche Überschriften/Untertitel oder Verwendung von Grafiken, die gar nicht im als Quelle zitierten Artikel vorkommen. Auch dies hab ich leider bei beiden Gruppen schon beobachtet.

Verschiedene Arten von Verzerrungen in der Wissenschaft(Auswahl)

Seriöse Studien haben am Ende des Artikels einen “Discussion”-Teil, wo explizit auf die Grenzen ihrer Erkenntnisse hingewiesen wird, z.B.

  • kleine Teilnehmerzahl
  • keine oder kleine Kontrollgruppen
  • homogene Teilnehmerzahl (z.B. nur Veteranen)
  • veraltete Situation wie Daten vor Impfkampagne und mit alten Virusvarianten
  • keine Erhebung der Situation vor der Erkrankung (MRT-Studien)
  • Zu kurzer Nachuntersuchungszeitraum
  • monozentrische Studien (nur in einem klinischen Zentrum, z.B. in einer Praxis)
  • Daten von schweren Verläufen werden verallgemeinert
  • “self reported” und Angehörigen-Daten bei Fragebögen
  • verschiedene Zeiträume, Studienpopulationen und Studiendesigns (Methodik)
  • verschiedene LC-Definitionen
  • sehr milde Verläufe zunehmend unterrepräsentiert, weil nicht mehr getestet wird (kann auch Kontrollgruppe betreffen)
  • Fehler bei Datenerhebung z.B., dass ein Ende einer Diagnose in einer medizinischen Akte nicht zwangsläufig bedeutet, dass die Erkrankung nicht mehr existiert [Anm: oder dass bestimmte Diagnosen gar nicht erhoben werden, weil nicht kodiert wird]
  • auch Kontrollgruppen können fehlerbehaftet sein, z.b., weil Personen mit Grunderkrankungen häufiger getestet haben, dann vergleicht man Kranke mit Kranken
  • in vitro wirksame Wirkstoffe müssen nicht zwangsläufig in vivo (beim Menschen) wirken, etwa gegen Infektion oder Long Covid

Wenn man Studien unkritisch teilt und etwa die Limitationen weglässt, besteht die Gefahr des Confirmation Bias, das heißt, nach Informationen zu suchen, die die eigenen Überzeugungen bestätigen – und das geschieht am häufigsten innerhalb von Gleichgesinnten, die lieber unter sich bleiben und kontroverse Standpunkte nicht zulassen wollen („Echokammer“, „Gruppendynamik“).

Zu einer Verzerrung trägt aber auch die Kommunikationsform bei: Social Media wurde nicht dafür konzipiert, dass sich nüchterne und sachliche Informationen am effektivsten verbreiten, sondern ist ein Marktschreierplatz, der auf Emotion und Lautstärke setzt. Wie bei politischen Wahlen sprechen die jeweiligen Gruppen ihre Anhänger/Mitglieder am ehesten durch emotionsgetriebene Schlagzeilen an. Damit haben es Zweifel und kritische Gegenfragen aber generell schwer und es werden Dogmatismen verbreitet, die bei näherer Betrachtung nicht haltbar sind. Ich hab mich für den Aufbau des Blogs sehr darauf verlassen müssen, dass die ExpertInnen, denen ich gefolgt bin, seriöse Arbeit machen und einen Fachartikel objektiv analysieren, ohne eigene Agenda. Das ist mir nicht immer geglückt und gehört zu den Dingen, die ich aufarbeiten und korrigieren muss – bei der Fülle an Beiträgen und Seiten am Blog eine Mammutaufgabe.

Ich verfolge übrigens keine Agenda im Rückblick, sondern möchte mich auf das besinnen, was ich durch den ambitionierten Titel meines Blogs zum Ziel gesetzt habe: Fakten aufzeigen.

Fachliteratur zu Desinformation

2025

2024

2023

2022

Pia Lamberty und Katharina Nocun: Gefährlicher Glaube. Die Radikale Gedankenwelt der Esoterik (2022), ISBN 978-3-8699-5111-9

Christoph Zielinski und Herbert Lacker: Die Medizin und ihre Feinde. Wie Scharlatane und Verschwörungstheoretiker seit Jahrhunderten Wissenschaft bekämpfen (2022), ISBN 978-3-8000-7796-0

2021

2020

Vor der Pandemie

„Der ideale Untertan der totalitären Herrschaft ist nicht der überzeugte Nazi oder der engagierte Kommunist, sondern Menschen, für die die Unterscheidung zwischen Fakt und Fiktion, wahr und falsch, nicht mehr existiert.“ (Hannah Arendt)