Lockdown or Shutdown ist kein wissenschaftlicher Begriff. Damit war aus Sicht der Politik, Wirtschaft und Medien gemeint, die Wirtschaft und das öffentliche Leben niederzufahren.

Epidemiologen sprechen hingegen von nonpharmazeutischen Interventionen, wie etwa Maske tragen oder Kontaktbeschränkungen. Wir wissen, dass diese grundsätzlich effektiv sind, z.B.

Notwendigkeit von Lockdown-Maßnahmen

Über vier Jahre nach Ausbruch der Pandemie geht der gesellschaftliche und politische Trend zur Banalisierung der Gefahr, die von SARS-CoV2 von Beginn an ausgegangen ist. Vor allem neoliberale (FDP, NEOS) und rechtsextreme (AfD, FPÖ) Parteien stellen die Schutzmaßnahmen nachträglich als übertriebene Grundrechtseinschränkungen dar. Dabei hatte z.B. die FPÖ selbst im März 2020 einen strengen Lockdown gefordert. In Österreich sind es zudem die mitregierenden Grünen, in Deutschland auch die SPD, welche die Schulschließungen infragestellen und für künftige Pandemien bzw. Krankheitsausbrüche grundsätzlich unterbinden wollen.

Um selektiven Erinnerungen vorzubeugen: Es gab echte Ausgangssperren in China sowie etwa in Italien, Spanien oder Frankreich. Die europäischen Länder mit den schärfsten Maßnahmen hatten zu Beginn jeweils zu spät reagiert und liefen jeweils in eine humanitäre Katastrophe mit hohen Sterblichkeitsraten und kollabierendem Gesundheitssystem. Zu berücksichtigen ist dabei aber auch die Überalterung der Bevölkerung in den jeweiligen Ländern und den Hotspots der Ausbrüche. In den USA hätten die Übersterblichkeit verringert werden können, wenn alle Bundesstaaten restriktivere Maßnahmen verhängt hätten (Ruhm 2024).

In Deutschland, Österreich und Schweiz gab es Ausgangsbeschränkungen bzw. Ausgangsregeln. Der Aufenthalt im Freien war grundsätzlich gestattet und wurde auch millionenfach genutzt. Ab der zweiten Welle gab es zudem etliche Ausnahmen, sodass von „Einsperren“ keine Rede sein konnte.

Daher ist es durchaus ratsam und heilsam, an die Ausgangslage vor vier Jahren zu erinnern, die zu diesen dramatischen Maßnahmen geführt hat:

Am 31. Dezember 2019 meldete China die Häufung von atypischen Lungenentzündungen unbekannter Genese. Kurz darauf wurde ein unbekanntes Corona-Virus, anfangs als COVID19-Virus bezeichnet, als Ursache festgestellt. China reagierte drastisch und versetzte Wuhan, wo die ersten Infektionen registriert wurden, ab 23. Jänner 2020 in den Lockdown. Vom 23. Jänner bis zum 2. Februar entstand das Notkrankenhaus Huoshenshan, ein weiteres entstand im Stadtbezirk Jiangxia und wurde am 6. Februar 2020 eröffnet. Der rekordverdächtige Bau war notwendig, nachdem die Infektionszahlen innerhalb kürzester Zeit sprunghaft in die Tausenden angestiegen war. Zudem verbreiteten sich trotz Zensur Bilder und Videos auf Social Media, die zurückgelassene Leichen in den Fluren der Spitäler zeigten, während sich die Ärzte um andere Patienten kümmerten. In Europa gab es schon im Jänner die ersten Einschleppungen, etwa der Webasto-Cluster in Deutschland um den 19. Jänner, ebenso wurden in Italien chinesische Touristen positiv getestet. Ich war im Jänner 2020 auf Kur in Bad Mitterndorf und scherzte noch auf der Rückfahrt mit dem Regionalzug, dass ich mir den Sitzplatz hätte aussuchen können, entweder linke Reihe mit Influenza verseuchte Einheimische oder rechte Reihe mit Corona verseuchte Chinesen.

Am 20. Februar ging Mattia Maestri das zweite Mal in die Notaufnahme des Krankenhauses in Codogno, Lombardei. Entgegen den Vorschriften machte eine Ärztin einen Test auf SARS-CoV2 und der war positiv. Ab da begann man zu testen und stellte fest, dass das Virus in Norditalien schon seit Wochen unbemerkt zirkulierte. Am 25. Februar erkrankte eine italienische Rezeptionistin in einem Innsbrucker Hotel und war damit Patient Null in Österreich („Niemand darf heraus oder herein.“). Anfangs wurde in Zusammenhang mit Reisewarnungen nur getestet, wer gerade aus China bzw. aus der Provinz Hubei kam. Später wurden Reisewarnungen auf 11 Gemeinden in Venetien und der Lombardei ausgeweitet, galten aber nicht für das übrige Italien.

Österreich erlebte dann mit dem Ausbruch in Ischgl ab dem 3. März jene dramatische Ereignisse, die in weiterer Folge zur Abrieglung vom Arlberg und den österreichweiten Lockdown führte – nicht ohne vorher durch die unkontrollierte Ausreise ganz Europa mit tausenden infizierten Wintersporttouristen einzudecken und so ganz maßgeblich die erste Welle zu befeuern. (Am 24. August 2023 wurden alle Klagen gegen Ischgl eingestellt, das Oberlandesgericht sah keine Haftung des Bundes, da die „im Epidemiegesetz auferlegten Handlungspflichten “ausschließlich den Schutz der Allgemeinheit bezwecken„.)

Der Lockdown war also die unmittelbare Antwort auf die unkontrollierte Ausbreitung des Virus, von dem die österreichischen Behörden bzw. Regierung bis zum Zeitpunkt des Lockdowns und darüber hinaus nicht wussten, wie es sich überträgt und wie schwer die Folgen für die Gesamtbevölkerung sein könnten. Vor individuellen Schutzmaßnahmen wie Händewaschen und Maske tragen standen bundesweite Maßnahmen, um physische Kontakte zu beschränken – wenn man sich gar nicht begegnete, war es irrelevant, wie das Virus übertragen wurde (ausgenommen etwa Cholera, aber dafür hat Wien im 19. Jahrhundert die Hochquellwasserleitungen angelegt). In der Phase der allgemeinen Kontaktbeschränkungen durch Ausgangsregeln und Herunterfahren von Dienstleistungen, Bildungseinrichtungen, Gastronomie und Kultur hätte nun eruiert werden können, wie das Virus sich überträgt und welche gezielten Schutzmaßnahmen getroffen werden konnten, um künftige Lockdowns zu verhindern – stattdessen erklärte man die Pandemie aus dem Kanzleramt heraus schon im Juni für „überwunden“.

Wo man zu spät reagierte (UK, Brasilien, Italien, Spanien, Frankreich) oder lange Zeit gar nicht (Schweden), gab es vor allem in der ersten Welle schreckliche Bilder. Massengräber in New York, Militärkonvois in Bergamo, Massenfriedhof in Manaus, überfüllte Spitäler in Teheran. Es gab die Berechnungen, dass 100 000 Menschen in Österreich hätten sterben können, wenn die Welle ohne Maßnahmen durchgefegt wäre („jeder wird jemanden kennen“).

Die Gegner von bundesweiten Maßnahmen wie Kontaktbeschränkungen, geschlossene Gastronomie, Schulschließungen oder Maskenpflicht im Unterricht, Maskenpflicht im Gesundheitswesen ebenso wie in Öffentlichen Verkehrsmitteln übersehen, dass jeder Mensch Teil der Pandemie ist. Menschen können sich anstecken und das Virus übertragen an andere Menschen mit höheren Risikofaktoren. Es können aber zuvor gesunde Menschen oder ohne bekannte Risikofaktoren schwer erkranken oder Spätfolgen entwickeln. Alte Menschen können nur geschützt werden, wenn ihr Umfeld mitmacht – sonst werden sie auf inhumane Weise völlig isoliert oder haben die höchste Sterblichkeit. Kinder kann man ignorieren und durchseuchen, Spätfolgen bei Kindern riskieren, Kinder mit schweren Grunderkrankungen gefährden oder völlig isolieren, ebenso die Angehörige der Kinder ignorieren. Oder sie werden geschützt, indem die Erwachsenen sich zurücknehmen und niedrigere Inzidenzen schaffen.

Die bundesweiten Maßnahmen dienten vor allem 3 Zielen:

  • die Spitäler nicht zu überlasten, was nicht gelungen ist, aber nicht, weil Masken und Lockdowns nicht wirken würden, sondern weil es zu viele Ausnahmen gab, weil sie zu spät und nicht lange genug eingesetzt wurden. Weil die Bereitschaft sich an Maßnahmen zu halten, im Verlauf der Pandemie abnahm – denn es mangelte an rationalen Erklärungen für ihre Fortführung. „Warum soll ich Maske tragen? Auf den Intensivstationen schaut es ruhig aus.
  • Zeit zu gewinnen, um Test-Trace-Isolate-Quarantine hochzufahren und die mit gelinderen Maßnahmen wie Maske tragen einen neuerlichen Lockdown zu verhindern. Auch das ist nicht gelungen, weil es zu halbherzig versucht wurde. Nach jeder Welle dominierte das Wunschdenken, dass die Pandemie damit ausgestanden sei und nichts mehr getan werden müsse.
  • Zeit zu gewinnen, bis Impfstoffe und antivirale Medikamente entwickelt wurden. Solange musste eine immunnaive Bevölkerung vor Infektionen geschützt werden. Auch das ist nicht gelungen. Die zweite Welle sorgte für eine hohe Übersterblichkeit in Österreich, die dritte Welle traf vor allem den Osten schwer. Die Impfkampagne lief am Anfang sehr schleppend an, die Altersgruppen im produktivsten Alter mit den meisten Sozialkontakten kamen als Letztes dran. Die Impfkampagne war zu langsam und Delta sorgte erneut für viele Tote. Man wollte aber nicht warten, bis die Impfung für Kinder zugelassen war und öffnete die Schulen schon lange vorher. Sie blieben auch im Lockdown der vierten Welle offen. Als antivirale Medikamente endlich verfügbar waren, wurden sie mangels Aufklärung innerhalb der Ärzteschaft viel zu selten verschrieben, dann zu wenig bestellt und dann gab es einen Mangel.

Die Strategie ist also gescheitert, weil bundesweite Kontaktbeschränkungen als ultima ratio immer zu spät eingesetzt wurden. Eine koordinierte und kontrollierte Ausreise vom Arlberg hätte den Ländern in ganz Europa mehr Zeit gegeben, sich vorzubereiten, etwa Schutzkleidung zu beschaffen und früher Masken einzuführen, ebenso Testkapazitäten hochzufahren.

Länder wie Australien oder Neuseeland haben die Maßnahmen solange durchgezogen, bis ihre Bevölkerung „ausreichend“ gut durchgeimpft war. Weder Australien noch Neuseeland konnten damit rechnen, dass mit Omicron der Schutz vor Ansteckung so massiv unterlaufen wird, dass eine hohe Durchimpfungsrate nicht mehr ausreichen würde. Dennoch sind Australien und Neuseeland besser durch die Pandemie gekommen, mit niedriger Übersterblichkeit, lange sogar Untersterblichkeit, und in den Phasen zwischen den Lockdowns völlig ohne Kontaktbeschränkungen. Dort war das Leben zwischendurch wie früher, aber mit dem Unterschied, dass auch nahezu kein Infektionsrisiko bestanden hat.

Der Lockdown für Ungeimpfte

Ich hab den „Lockdown für Ungeimpfte“ im Spätherbst 2021 zwei Tage vor dem Inkrafttreten heftig kritisiert. Ich war damals wie heute der Überzeugung, dass nur Kontaktbeschränkungen für die Gesamtbevölkerung die Infektionszahlen und damit den Druck auf die Spitäler nachhaltig senken würden.

Vorgeschichte

Es bleibt uns nicht erspart, die letzten Monate vor dem Lockdown für Ungeimpfte aufzudröseln, weil wir die Beweggründe dafür sonst nicht nachvollziehen können.

Als Folge der Einführung der Impfung im Frühling 2021 sanken die Infektionszahlen stetig ab und die Pandemie schien überwunden. Kanzlerdarsteller Kurz (ÖVP) ließ durch den neuen Gesundheitsminister Mückstein (Grüne) den Grünen Pass einführen, die allseits bekannte 3G-Regel (getestet, genesen oder geimpft). Die damals berechtigte Grundannahme war, dass eine Infektion oder Impfung zu einer anhaltenden Immunität führen würde. Reinfektionen blieben 2021 noch selten und die Impfstoffe erzeugten einen hohen Schutz vor Ansteckung (siehe Chronik). Mikrobiologe Michael Wagner warnte vor vorzeitigen Lockerungen im Sommer 2021, denn die Kombination aus teilweise immunisierter Bevölkerung und steigenden Infektionszahlen könnte zu impfresistenten Virusvarianten führen (Selektionsdruck), bereits zu Jahresbeginn hatte Virologe Paul Bieniasz vor dieser Entwicklung gewarnt.

„Sobald wir jedem, der das möchte, eine Impfung angeboten haben, hat der Staat seine Aufgabe erfüllt. Dann heißt es wieder zurück zur Normalität, zur Freiheit, zu einem normalen Leben.“

Ex-Bundeskanzler Kurz am 21 Mai 2021

Die Kernbotschaft der Bundesregierung war ab der Ankunft der Impfung, dass damit die Pandemie beendet werden würde. Das war der Anreiz, sich impfen zu lassen. Geimpfte Personen würden sich aus dem Infektionsgeschehen nehmen, für sie würden keine Schutzmaßnahmen Einschränkungen mehr gelten. Wer 3G nicht erfüllte, musste eine Maske tragen – damit wurden sinnvolle Schutzmaßnahmen als Bestrafung geframed. Von den 3G-Regeln ausgenommen waren jedoch (kleine) Kinder und damit die Quelle für viele Superspreading-Ereignisse und Haushaltscluster durch Kindergärten und Schulen. Für Kinder wurde die Impfung nicht vor Ende November 2021 zugelassen, sie trieben damit das Infektionsgeschehen weiter an.

Am 17. Juni gab es die nächste Pressekonferenz der Bundesregierung zum „Sommer der Lebensfreude“, und es fiel eine weitere zentrale Aussage:

„Derzeit gebe es genug Impfstoff für alle Impfwilligen – gemeinsam mit den Genesenen könne am Ende eine Herdenimmunität entstehen.“

Labormediziner Oswald Wagner
Kanzler Kurz im „Instagram-Interview“ am 17. Juni 2021 für die „Heute“

Am 21. Juni warnte Komplexitätsforscher Klimek davor, dass die Impfrate nicht hoch genug sein würde, um eine schwere vierte Welle mit Belastung der Intensivstationen zu verhindern. Im Juli blieb die Impfkampagne dennoch im Kanzleramt liegen. Im September wies AKH-Intensivmediziner Staudinger darauf hin, dass die meisten Intensivpatienten ungeimpft wären, auch junge Menschen. Zur Offlabel-Impfung von Kindern unter 12 Jahren riet Impfgremiums-Mitglied Kollaritsch dazu, bis zur Zulassung zu warten, und bis dahin „mit nichtpharmazeutischen Maßnahmen versuchen, die Infektionsgefahr so gering wie möglich zu halten.“ Der Rest ist schnell erklärt, von Virologin Redlberger-Fritz bis zu den Epidemiologen Schernhammer und Gartlehner rechnete niemand mit einer Überlastung der Spitäler durch die Delta-Welle und einem weiteren Lockdown.

Analyse

Wissenschaftler haben davor gewarnt, in hohe Infektionszahlen hineinzuimpfen, weil so Fluchtvarianten generiert würden. Genau so ist es gekommen. Die Regierung kümmerte sich nicht um die neuen Varianten und war offenbar falsch informiert: Die Impfung würde die Pandemie nicht mehr beenden, die Herdenimmuntität war außer Reichweite. Sie unterschieden zudem nicht zwischen geimpft und durchgemachter Infektion, noch hatten sie im gesamten Zeitraum im Hinblick auf präventive Maßnahmen die Langzeitfolgen der Infektion am Schirm. Sonst hätten sie spätestens nach der Winterwelle 2020/2021 aufgehört, von „Genesenen“ zu sprechen.

Der Regierung reichte es, das Impfangebot zu machen, denn am Ende rechnete man so oder so mit einer Herdenimmunität und jene, die sich impfen lassen wollten oder konnten, sollten mit einer durchgemachten Infektion dazu beitragen. Die Rechnung ging nicht auf, aber auch davor hatten Wissenschaftler schon im Spätwinter 2020/2021 gewarnt, nämlich, dass mit den ansteckenderen Varianten Herdenimmunität durch Impfung alleine nicht mehr erreichbar war. Über die Aufklärung zur Impfung hat die Regierung sich offenbar zu wenig Gedanken gemacht. Es hätte deutlich zwischen Schutz vor Ansteckung und Übertragung sowie symptomatischen Verläufen unterschieden werden müssen. Ebenso, dass der Schutz erst mit ein paar Wochen Verzögerung eintrat. So haben offenbar viele schon gleich nach der Impfung alle Vorsicht fallengelassen und sind gleich unter Leute gegangen, haben sich infiziert, hatten einen spürbaren Verlauf und dann stellte man die Impfung in Frage oder schob die Folgen auf die Impfung. Maske tragen und Testen wurde als Strafe geframed, wenn man ungeimpft war – ein völlig falscher Ansatz.

Die Wahlen in Oberösterreich im Herbst 2021 führten entscheidend zur Verzögerung der Impfkampagne. Die Impfgegner- und Pandemieleugnerpartei MFG drohte den etablierten Parteien Stimmen zu kosten, deshalb hielt man sich bewusst zurück. In weiterer Folge wurde die Pandemie durch die Chataffäre in der ÖVP zur Nebensache. Die Show zur Zulassung der Impfstoffe für Kinder unter 12 Jahren Ende November 2021 überlass man dann den Grünen. Mückstein brachte plötzlich Long COVID ins Spiel, um für die Kinderimpfung zu werben. Leider eine einmalige Aktion, die ohne monatelange Vorbereitung kaum Wirkung bei den Impfraten zeigte.

Der Lockdown für Ungeimpfte fand entgegen den Rat der Experten statt. Aufgrund der beobachteten Durchbruchsinfektionen bei Zweifachgeimpften reichte es nicht mehr aus, nur Ungeimpfte zu beschränken. Es war von Beginn an absehbar, dass gerade Impfunwillige und Pandemieleugner sich am wenigsten an diese, schwer kontrollierbaren Regelungen halten würden. Im Gegenteil, sie zeigten sogar ein höheres Mobilitätsverhalten, gingen mehr einkaufen und trafen mehr Menschen. Die Modellrechnungen zeigten, dass der Lockdown für Ungeimpfte nicht ausreichen würde, um den Kollaps in den Spitälern zu verhindern. Daher kam der Lockdown für alle bereits eine Woche später – eine sehr schmerzhafte Entscheidung mit Gesichtsverlust für die Regierung, die ja den ganzen Sommer über versprochen hatte, dass mit der Impfung die Pandemie sein würde und Geimpfte „zur Normalität zurückkehren“ könnten. Nun also die Kehrtwende. Die Kontaktbeschränkungen galten nicht für die Schulen, dort mussten zumindest Schüler der Oberstufe auch im Unterricht FFP2-Maske tragen, andernfalls wäre die Durchseuchung ungehindert weitergegangen. Inwiefern Stoffmasken bei Volksschulen allerdings entscheidend die Ausbreitung abmilderten, ist bis heute unklar.

Mit dem Lockdown für alle wurden Geimpfte und Ungeimpfte wieder gleichgestellt. Ich erinnere mich noch gut an die wütenden Tweets von manchen Bürgerinnen und Bürgern „Jetzt habe ich mich impfen lassen und muss mich trotzdem einschränken!“. Die Verlängerung des Lockdowns für Ungeimpfte im Jänner 2022 war ein Fehler. Zu diesem Zeitpunkt übernahm Omicron und der Lockdown hätte weiterhin für alle gelten sollen, bis insbesondere die jüngere Bevölkerung durchgeimpft war. Stattdessen wurde Omicron als Weihnachtsgeschenk mit offenen Armen empfangen und ab Jänner 2022 sukzessive alle Maßnahmen aufgehoben. Dabei hat Omicron im Jahr 2022 ähnlich viele Tote verursacht wie der Wildtyp im Jahr 2020. Es trat sehr wohl eine Überlastung in den Spitälern ein, vor allem auf den Normalstationen, wo auch vor Omicron schon die Mehrheit der Patienten starb. Es gab aber auch Engpässe im Personal, das selbst zunehmend erkrankte. Am Arbeitsplatz waren sie durch Maske tragen noch geschützt, doch gegen die Durchseuchung der Kinder und Jugendlichen waren sie machtlos.

Viele, mehrheitlich Frauen erkrankten durch die ersten Omicron-Wellen an LongCOVID und MECFS, auch nach dreifacher Wildtyp-Impfung, weil Omicron so starke Fluchtmutationen aufwies. Viele betroffene Patientinnen und Patienten aus dieser Zeit sind heute immer noch schwerkrank oder sogar bettlägerig. Sehr wenige Betroffene sind nach der Impfung chronisch erkrankt. Es bleibt unklar, ob sie nicht durch die Infektion einen ähnlichen Verlauf entwickelt hätten, wenn möglicherweise ähnliche Mechanismen diese Nebenwirkungen auslösen. Die Mehrzahl der Geimpften ersparte sich jedoch einen schweren Verlauf. Ebenso erkrankten Kinder nach einer Impfung deutlich seltener an dem schweren Multientzündungssyndrom MISC. Auch mit der Omicron-Variante nahm diese Komplikation ab, dafür traten vorübergehend gehäuft schwere Hepatitis-Fälle auf, die später auf Omicron zurückgeführt werden konnten.

Zur Behauptung, die Intensivstationen wären nicht überlastet gewesen …

Jetzt geht das wieder los, dass irgendwelche Laien behaupten, die Intensivstationen waren nicht überlastet. Dann zeigen die irgendwelche frühe DIVI-Statistiken, die schon immer falsch waren, weil man noch jeden Ambubeutel als Kapazitätsreserve mitzählte. Dann zeigen die Grafiken, die den Abbau von Betten darstellen. Ja, genau, Laie, man hat irgendwann Betten zur realen Personallage ins Verhältnis gesetzt. Real war, was Laien nie kapieren, dass es Level in der Versorgung gab und viele Fälle in der Spitze viele ECMO-Fälle produzierten, was gerade noch so beherrschbar war.
Wir habe beispielsweise zwei neue ITS eröffnet, nur um im High End Level noch versorgen zu können. Das haben wir aber nur geschafft, weil viele Pfleger und Ärzte im Skill Mix geackert hatten. Nach den Monaten waren viele von denen kaputt auf den Reifen – ausgelaugt .
Und nein, noch keine Grippewelle hat sowas jemals ausgelöst.
Und ja, viele waren ungeimpft.
Und nein, die hatten nicht alle Armbrüche und dann Covid. Selbst wenn, was ändert das denn?
Und ja, es waren Ältere dabei. Und nein, die wären nicht sowieso gestorben. Es geht nämlich um Individuen und nicht um statistische Mediane.
Und ja, es ist einfach so, dass man eine ITS nicht zu 100% auslastet. Das ist international Standard. Qualitativ, also über Outcome betrachtet, sollte eine ITS nur zu 90% belegt sein. Das wissen Laien aber nicht.
Und ja, es gab viel früher zu wenige Pfleger. Haben die Wähler so gewollt. Haben so gewählt. Und nein, wir haben nicht zu viel und zu früh beatmet. Wer sowas behauptet hat keine Ahnung, wann man intubiert oder Masken-CPAP macht.
Und nein, andere Länder haben nicht weniger Intensivpatienten gehabt. Bei denen wird nur anders gezählt und eine ICU oder Beatmungsnormalstation gibt es dort, zählt aber nicht als ITS. Aber die können das auch, weil die andere Personalschlüssel für diese Stationen haben und nicht wie hier 1 zu 10 oder zu 15. Ich diskutiere das auch nicht mehr, denn es ist zwecklos mit Menschen zu diskutieren, die nicht mal ein Fetzen Ahnung von Personalsteuerung, Bettenmanagement und Patientensteuerung haben.

Alexander Eichholtz, Pflegekraft (x)

Zum Begriff „Pandemie der Ungeimpften“

Impfgegner und Pandemieverharmloser reißen Zitate häufig nicht nur aus dem Zusammenhang, sondern auch aus dem zeitlichen Verlauf der Pandemie.

Anfang September 2021 war die Mehrzahl der Spitalspatienten ungeimpft, Quelle: RKI

Als der damalige Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) von der „Pandemie der Ungeimpften“ sprach, bezog er sich im Satz darauf erklärend auf die hohe Anzahl Ungeimpfter in den Spitälern. Und Anfang September 2021 (Delta-Welle) hat das auch gestimmt. Wissenschaftlich korrekt wäre es gewesen, davon zu sprechen, dass die „derzeitige Coronakrise vor allem durch Ungeimpfte getrieben werde“ (Maier et al. 2021 preprint).

Zur Behauptung, auf den Intensivstationen würden nurmehr Geimpfte liegen

Im Verhältnis zur Gesamtzahl der geimpften Bevölkerung war der Anteil der Geimpften auf den Intensivstationen oder in der Todesstatistik viel geringer als bei den Ungeimpften.

Zur Aussage des Pfizer-CEO, dass die Impfung vor Ansteckung schützen würde

Das sagte er im Februar 2021. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir den ersten Impfstoff, aber bereits die zunehmende Alpha-Variante, damals als „Britische Variante“ oder B.1.1.7 bekannt. Alpha war deutlicher infektiöser als der Wildtyp, aber unterschied sich sonst glücklicherweise nicht so dramatisch, dass die Impfwirksamkeit beeinträchtigt gewesen wäre. Daher gab es mit zwei Impfdosen auch gegen Alpha noch rund 90% Infektionsschutz. Ein sehr guter Wert.

Gegen Delta wirkten zwei Impfdosen nicht mehr so gut. Delta war die erste weltweit dominante Variante mit Fluchtmutationen. Sie entkam der Immunantwort nicht nur effektiver, sondern war auch deutlich infektiöser. Schon 24 Stunden nach einem negativen PCR-Test konnten infizierte Personen ansteckend sein, die Viruslast war 1000x höher als beim Wildtyp (Li et al. 2021). Israel hat im Juli 2021 erfolgreich getestet, dass 3 Impfdosen wieder einen hohen Schutz vor Infektion erzielen. Europa brauchte immer etwas länger, denn sie hatten schon Mühe, mit zwei Impfdosen eine hohe Bevölkerungsimmunität zu erreichen. Erst im Herbst 2021 gab es eine Impfkampagne für den dritten Stich zur „vollständigen Grundimmunisierung“. Bis zum Auftreten von Delta war man davon ausgegangen, dass zwei Impfdosen reichen würden. Führende Virologen hatten nicht damit gerechnet, dass so frühzeitig Virusvarianten auftreten würden.

Jede Impfung braucht eine gewisse Zeit, bis sie ihre Wirkung im Körper entfalten kann. Man rechnete mit 7-10 Tagen, bis der Infektionsschutz vollständig gegeben war – je nach Individuum auch 14-21 Tage. Hier sind sicherlich Kommunikationsfehler passiert. Viele haben wohl geglaubt, sie könnten ab dem „Stichtag“ wieder unbesorgt in die Menschenmenge gehen (Hoehl et al. 2021). Dadurch nahmen Ansteckungen im Zeitfenster zu, wo der vollständige Infektionsschutz noch nicht vorhanden war. Wer sich kurz vor oder nach der Impfung ansteckte, schob die Symptome auf die Impfung statt auf die Infektion und bezeichnete die Impfung fälschlicherweise als unwirksam. Dabei war ihr eigenes, risikoreiches Fehlverhalten die Ursache.

Mit Omicron (BA.1, BA.2, etc…) änderte sich das Virus aber grundlegend. Es wies nun so hohe Immunfluchteigenschaften auf, dass die Impfung nicht mehr vor Ansteckung schützte. Eine vorhergehende Infektion ebenfalls nicht – das Reinfektionsrisiko vervierfachte sich (Head and Elsland 2021)! Daher mussten neue, auf BA.1 angepasste Impfstoffe her.

Südafrika hatte drei Mal so viel Übersterblichkeit wie Sterblichkeit, die Omicron-Welle war dort nicht viel milder als vorherige Varianten, wurde aber als Richtwert für die Bewertung von Omicron genommen. (Quelle)

Bald sah man in Daten aus Südafrika, dass BA.1 viel mildere Verläufe verursachte. Dort sind aber viele ältere und vulnerable Menschen schon in den ersten Wellen gestorben (hohe Übersterblichkeit!) und die Bevölkerung ist viel jünger (Durchschnittsalter unter 30) als in Europa. Zudem übersah man, dass Omicron deutlich ansteckender war und auch wenn pro Fall weniger schwere Fälle auftraten, waren viele Fälle eben doch noch eine hohe Anzahl an schweren Fällen. Deswegen gab es 2022 in Österreich ähnlich viele Tote wie 2020.

Dennoch wurde BA.1 als „Weihnachtsgeschenk“ gesehen. Die Regierungen ließen sich plötzlich Zeit mit der Impfstoffanpassung. Pfizer und Moderna hatten noch im November/Dezember gesagt, sie könnten innerhalb weniger Monate einen angepassten Impfstoff herausbringen. Das war zutreffend. Im März 2022 hätte der bivalente BA.1-Impfstoff ausgeliefert werden können.

Quelle: Spiegel-Artikel vom August 2022

Es kam anders. Die Intensivstationen waren weniger belastet als bei Delta, dafür die Normalstationen umso mehr und es erkrankte zudem viel Gesundheitspersonal, weil die Schulen offen blieben. Man schob die Zulassung von BA.1 in den Herbst hinaus und redete fortan nurmehr von der Herbstwelle.

Bis zum Herbst erlebte der Großteil der Bevölkerung seine Erstinfektion, meist auf Grundlage von 2-3 Wildtyp-Impfdosen. In dieser Zeit kamen einige Longcovid-Fälle hinzu, über die niemand spricht, und wenn es Impfgegner tun, glauben sie, das wären alles Impfschäden. Aber das ignoriert eben die Eigenschaft der Omicron-Varianten. Manche Virologen sprachen anfangs sogar von einem neuen Serotyp, „SARS-CoV3“. Ein anderes Virus quasi, worauf der erste Impfstoff nicht mehr so gut passte. Er verhinderte zwar weiterhin schwere Verläufe, aber eben milde bis moderate Verläufe nicht mehr. Der BA.5-Impfstoff kam ebenfalls im Herbst, als die BA.5-Welle gerade das zweite Mal durchlief. Im Sommer infizierten sich viele in der hohen BA.5-Sommerwelle. Im Herbst 2022 waren also schon viele mindestens einmal, manche schon zwei oder gar drei Mal infiziert worden. Durch das ständig wiederholte Gerede „Omicron ist mild“ und durch die kürzliche Infektion war der Hunger auf eine weitere Impfdosis entsprechend sehr sehr gering. Und seitdem sind die Impfstoffraten am Tiefpunkt, obwohl die Impfstoffe schwere Verläufe/Todesfälle weiterhin in hohem Ausmaß verhindert haben, egal welcher Impfstoff. Auch Astra Zeneca.

Die Bevölkerung hangelt sich von Infektion zu Infektion, viele sind am Stand 3 Impfdosen stehengeblieben. Infektions-generierte Immunität ist aber sehr sehr heterogen, was frühe Studien ebenfalls schon gezeigt haben, speziell seit Omicron (Parker et al. 2022).

Die Impfung ist risikoärmer als eine Infektion

Und egal, welche Statistik man sich jetzt anschaut oder glaubt, JEDE Infektion hat ein gewisses Risiko, dass Spätfolgen zurückbleiben. Nicht nur das Longcovid mit PEM, sondern z.B. auch Diabetes, Infektanfälligkeit für einige Zeit, Verschlechterung von Grunderkrankung, etc. Die Impfung ist hingegen die im Verhältnis zur Infektion deutlich risikoärmere Version eines „Immunsystem-Updates auf die neuen Varianten“. Und ich betone risikoärmer, weil kein Medikament, kein Wirkstoff völlig risikofrei ist. Mag sein, dass ein Teil der Bevölkerung durch wiederholte Infektionen auf Grundlage ihrer Grundimmunisierung nun gegen weitere Varianten gut geschützt ist, aber ob man dazu gehört, weiß man in der Regel erst hinterher.

Man darf letztendlich auch nicht vergessen – selbst wenn Corona irgendwann auf die Gefährlichkeit einer Grippe „absinkt“, und die echte Influenzagrippe ist gefährlich genug, auch für gesunde Menschen, hat man künftig 2 ko-existierende Krankmacher, im Winter sogar gleichzeitig. Daher ist wichtig, dass man regelmäßig mit der Impfung sein Immunsystem wieder auf ein einheitlich hohes Level bringt, und sich nicht darauf verlässt, dass die Infektionen schon gut gehen werden. Bei Influenza rät das nämlich auch kein seriöser Arzt!

Und wenn die Impfgegner und Pandemieverharmloser nur ein Funken Empathie hätten, würden sie sich ebenfalls dafür einsetzen, dass mehr zu den Spätfolgen geforscht wird, weil die Mechanismen, die nach einer Impfung zu Spätfolgen führen, wahrscheinlich sehr ähnlich zur Infektion sind. Sie treten nach einer Impfung viel seltener auf, aber jedes einzelne Schicksal sollte uns angehen.

Mehr zum Zusammenhang von ungeimpften Menschen und Mortalitätsrate in diesem informativen Thread von Martin Sauer, X.