
Bis heute behaupten Pseudoexperten, dass Viren mit der Zeit harmloser werden würden und begründen das gerne damit, dass das Virus seinen Wirt nicht töten möchte, weil es sich sonst nicht verbreiten kann. Das ist falsch. In meiner Kolumne 12/01 bin ich auf diesen Mythos bereits ausführlich eingegangen. Nachfolgend eine Zusammenfassung.
NERVTAG: „The loss of virulence as viruses evolve is a common misconception“ (UK SAGE, 10.02.22)
Stephen Griffin, SAGE (26.07.23): „Über längere Zeit gesehen nimmt die Krankheitsschwere ab. Wir sehen das auch bei Covid19. Doch der Unterschied ist, dass es sich bei Covid19 um die Krankheit handelt und SARS-CoV2 das Virus ist. Jedes Mal, wenn wir krank sind, handelt es sich um eine Mischung des Pathogens und wie krankmachend das Virus ist, und die Resilienz unseres Immunsystems durch Impfungen und – unglücklicherweise – auch durch vorhergehende Infektionen. Und dann gibt es umgebende Faktoren wie Medikamente, Vorerkrankungen, Immundefizite, dann wird es uns wahrscheinlich schlechter gehen. Alter und Gebrechlichkeit spielen natürlich ebenfalls eine Rolle. Dem Virus ist die Krankheitsschwere egal, nachdem es uns infiziert und sich auf den nächsten Wirt übertragen hat. Nun hat man wahrscheinlich gehört, dass manche SARS-CoV2-Varianten eher auf die oberen als auf die unteren Atemwege gehen. Das ist ein schwieriger Ort, um Selektionsdruck aufzubauen, aber andererseits passt sich das Virus auch den ersten Stadien der Immunantwort an. Wir sehen die tatsächliche Krankheitsschwere nur in der Bevölkerung, die bisher keinen Viruskontakt hatte, leider etwa nach der Aufgabe von ZeroCovid in China (2023), in Hong Kong 2022. Man sah es in Indien mit einer neuen Variante. Das bedeutet leider, dass Menschen weiterhin sehr schwer erkranken können, und ähnlich wie bei Masern fürchte ich, wenn wir aufhören zu impfen, dann kann uns das Virus weiterhin sehr krank machen. Covid verringert das Risiko dank der Impfung schwer zu erkranken, aber das Virus sicherlich nicht.“
Molekularbiologe Elling: „Das Virus hat keinerlei „Interesse“ (=Selektionsvorteil) milder zu werden, denn Ansteckung passiert sowieso präsymptomatisch.“ (16.02.22, Twitter)
Epidemiologe Zangerle: „Dass das Virus keinen Übertragungsvorteil hätte, wenn es den Wirt töte, ist bei SARS-CoV-2 unzutreffend, vor allem weil die meisten Übertragungen Tage bis Wochen, also relativ knapp vor dem Tod passieren.“ (16.02.22, Seuchenkolumne)
Virologe Florian Krammer: „Ich versteh auch nicht warum die Leute der Geschichte vom ‘milden’ Omicron aufsitzen. Was das ‘milde’ Omicron in Hong Kong in der ungeimpften alten Bevoelkerungsschicht angerichtet hat steht den anderen Varianten um nichts nach.” (Twitter, 06.02.24):
Ursprung der Hypothese:
Der Bakteriologe Dr. Theobald Smith hat in den späten 1800er Jahren die Theorie aufgestellt, dass Infektionen mit der Zeit weniger tödlich werden. Dieses “Gesetz der abnehmenden Virulenz” (Méthot 2012) basierte darauf, dass Pathogene sich dahingehend entwickeln, ihre menschlichen Wirte nicht mehr umzubringen, um ihr eigenes Überleben zu sichern. Mit milderen Verläufen würden Menschen weiter aktiv sein und andere anstecken können.
In den letzten hundert Jahren haben Virologen aber gelernt, dass die Virusentwicklung viel chaotischer ist und vor allem auf evolutionärem Druck basiert. Denn das Virus ist kein “denkendes und strategisch planendes Lebewesen”. Vielmehr liegt es an multiplen Faktoren wie die Zahl der empfänglichen Wirte, wie lange die Menschen nach einer Infektion leben, die Reaktion des Immunsystems und die Inkubationszeit. Viele SARS-CoV2-Varianten entwickeln keinen Wachstumsvorteil gegenüber etablierten Varianten und sterben aus. Andere sammeln eine oder mehrere entscheidende Mutationen auf, die einen Fitnessvorteil verschaffen und eine neue Welle auslösen können. Besser übertragbare Virusvarianten sind aber nicht zwingend harmloser als vorherige Varianten. Das hängt maßgeblich davon ab, wie gut die Immunabwehr des Wirts das Virus bekämpfen kann.
Trifft das allgemein auf Viren zu? Nein.
- Es gibt derzeit über 60 verschiedene Typen von humanen Adenoviren, neuartige Typen sorgen für tödliche Infektionen (Robinson et al. 2013)
- Influenza fordert jährlich 290 000 bis 650 000 Tote und ist ein gutes Beispiel für ein Virus, das durch regelmäßige Zirkulation nicht harmloser geworden ist. 19% der Influenzatoten unter 5 Jahren geschehen in Entwicklungsländern (mehr Infos bei der WHO).
- Eine Virusentwicklung hin zu harmloseren Verläufen ist bei RSV nicht bekannt – es gilt weiterhin als das tödlichste Virus für Kleinkinder, mit weltweit rund 60 000 Toten (Giallonardo et al. 2018)
- Das Rhinovirus besteht aus 100 verschiedenen Subtypen und kann bis in die Antike zurückverfolgt werden. Bei keuchenden Kleinkindern ist es das zweithäufigste Virus nach RSV und kann schwerere Verläufe bis hin zu Asthma auslösen.
- Masern sind seit tausenden von Jahren bekannt – es gibt keine Entwicklung hin zu einem milderen Pathogen. Das Virus mutiert kaum, daher passt der Impfstoff sehr gut und es wäre leicht, die Masern vollständig auszurotten.
“Es ist keineswegs wissenschaftlich abgesichert, dass die Russische Grippe von einst von einem der vier gewöhnlichen Coronaviren ausgelöst wurde. Das ist lediglich eine Annahme und es gibt keinerlei Belege dafür. Viren werden mit der Zeit nicht harmloser, es gibt keine Belege dafür, dass dies bei SARS-CoV2 der Fall sein wird. Es gibt noch viel evolutionären Raum für dieses Virus zu entdecken, und man sollte sehr vorsichtig sein, wenn jemand glaubt, die Richtung von SARS-CoV2 vorhersagen zu können.“ (Aris Katzourakis, 11.01.24, Twitter)
Trifft es auf SARS-CoV2 zu? Nein.
Für Menschen mit hohem Risiko haben die Varianten das Risiko eines schweren Verlaufs nicht verändert. Bei Kindern kommt das Multientzündungssyndrom MISC mit Omicron deutlich seltener vor, dafür sind mehr Kleinkinder von schweren Verläufen betroffen.
Omicron war ein neuer Serotyp mit Immunflucht-Mutationen, die der bis dato vorherrschenden Immunität effektiv entkommen konnte. Deshalb steckten sich auch Dreifachgeimpfte und zuvor Genesene wieder mit dem Virus an.
Als Omicron erstmals in Südafrika sequenziert wurde und dort von milderen Verläufen die Rede war, ignorierte man den Umstand, dass die Bevölkerung wesentlich jünger ist als in Europa und damit die Wahrscheinlichkeit schwerer Verläufe eine andere.
Südafrika hatte drei Mal so viel Übersterblichkeit wie Sterblichkeit, die Omicron-Welle war dort nicht viel milder als vorherige Varianten, wurde aber als Richtwert für die Bewertung von Omicron genommen. Spekulativ hat die hohe Übersterblichkeit in den ersten Wellen bereits vielen vulnerablen Menschen das Leben gekostet, weshalb die Sterblichkeit mit der Ankunft von Omicron dann gesunken ist.
Was die Viruseigenschaften selbst betrifft, war Omicron im Vergleich zu Delta milder mit Bezugspunkt Hospitalisierung und Tod. Es ging weniger stark auf die Lunge, auch traten MISC-Fälle deutlich seltener auf. Omicron war aber deutlich ansteckender als Delta und vorherige Varianten, infizierte in kurzer Zeit viel mehr Menschen. In absoluten Zahlen waren daher mehr Menschen von schweren und chronischen Verläufen betroffen als bei vorherigen Varianten und die Zahl der direkt auf SARS-CoV2 zurückführbaren Todesfälle war ähnlich hoch, Übersterblichkeit nicht eingerechnet.
BA.1 war ein Ausreißer

BA.1 war ein virologisches Zufallsereignis. Das Britische Beratungsgremium NERVTAG warnte davor, dass die nächste Variante wahrscheinlich ähnlich schwere Verläufe verursachen würde wie vorhergehende Varianten.
Virulenz und Fusogenität gingen mit den frühen Omicron-Varianten zurück (Ruis et al. 2023), stiegen später aber wieder an. Omicron infizierte zunächst die oberen Atemwege besser, aber in weiterem Verlauf auch wieder die Lunge. Nicht nur die Spike-Proteine sind entscheidend für die Fähigkeit des Virus, in Nase und Lunge zu replizieren, auch Non-Spike-Proteine beeinflussen Immunflucht (Furnon et al. 2025).
Mit wachsender Immunisierung verringerte sich die Spike-Funktion, während RNA-Replikation als Kompensation zunimmt. NSP6 (Non-structural Protein 6) kapert die Lipidtröpfchenmaschinerie des Wirts und vertilgt Lipide (Ricciardi et al. 2022), das passiert auch während der Infektion. Bei BA.1 haben Mutationen in NSP6 diesen Prozess verringert und das korreliert mit verringerter Virusreplikation. Das könnte erklären, weshalb die gemessene Abwasser-Viruslast mit BA.1 geringer war als mit vorherigen Varianten (Baldovin et al. 2023, siehe Seuchenkolumne und Rector et al. 2023)