In Deutschland wurden Schluckimpfstoff-abgeleitete Polioviren im Abwasser gefunden (RKI-Bulletin, 28.11.24) – die Deutsche Gesellschaft für Virologie erläutert, was das bedeutet:

„Das Poliovirus verursachte bis in die 1960er jährlich bei Kindern Hunderte Todesfälle und einige Tausend Lähmungen in West- und Ostdeutschland. Mit dem damals eingeführten „abgeschwächten Lebendimpfstoff“ hatte das ein Ende. Heute zirkuliert das Virus nur noch in Afghanistan/Pakistan, mit jährlich einigen Dutzend Fällen von Lähmungen. Seit den 1990ern wird in Europa der „Totimpfstoff“ verwendet; im Gegensatz zum Lebendimpfstoff (der in Teilen Afrikas und Asiens noch eingesetzt wird) schützt der nicht vor jeglicher Ansteckung, sondern „nur“ vor der Krankheit (Kinderlähmung); man kann sich unbemerkt anstecken und das Virus weitergeben. Der Lebendimpfstoff hat bei allen Verdiensten der Nachteil, dass sich das Impfvirus „verselbstständigen“ kann.

Mittlerweile gibt es einen neuen Lebendimpfstoff, der dazu viel weniger fähig ist. Trotzdem sind die „alten“, Schluckimpfstoff-abgeleitete Polioviren noch in der Welt. Bei Geimpften verursachen sie keine Probleme. Und auch wenn sie weit weniger aggressiv als das Wild-Virus sind, können sie bei Menschen ohne jegliche Impfung Lähmungen verursachen. Das geschah bspw. 2022 in einem Fall im US-Bundesstaat New York. In der Folge wurden dort, wie jetzt auch in Deutschland, Schluckimpfstoff-abgeleitete Polioviren im Abwasser gefunden – was darauf hindeutet, dass sie in einem gewissen Maß in der Bevölkerung zirkulieren. Mit vollständiger Polio-Impfung (die über 90% der Bevölkerung in Deutschland haben) ist nichts zu befürchten. Die Empfehlungen sind daher, den Impfstatus zu überprüfen und bei Polio-typischen Symptomen, insbesondere Lähmungen, an dieses Virus zu denken.“ (29.11.24)

Edward Nirenberg

(auf Bluesky am 16.12.24, 00:22ff, übersetzt)

Infizierte Person scheiden Polioviren mit dem Stuhl aus, da das Virus in ihrem Darm repliziert, sowie über die oberen Atemwegssekrete. Hygiene hat die Ausbreitung paradoxerweise begünstigt. Bevor die Wasserversorgung gefiltert wurde, war Polio überall in der Umwelt vorhanden. Die Exposition geschah früh im Leben, selbst als Kleinkind, wo mütterliche Antikörper vorhanden waren. Diese verhinderten, dass das Virus das Nervensystem erreichen konnte, wo es Lähmungen (vapp und die bekannten verheerende Schäden verursachen konnte. Mit der Durchsetzung von Hygienemaßnahmen änderte sich der Zeitpunkt der Exposition. Nun wurden die Menschen erst krank, nachdem die mütterlichen Antikörper nicht mehr vorhanden waren. Es gab keine Bremse mehr für das Virus und die schweren Verläufe mit Lähmungserscheinungen nahmen drastisch zu. 1952 war ein besonderes schweres Jahr diesbezüglich in den USA (Lien and Heymann 2013).

Ein unterschätzter Aspekt in der Geschichte von Polio ist das Aufkommen der Intensivmedizin als Folge der Epidemie. Im Licht einer grassierenden Epidemie in Dänemark versuchte ein Anästhesist, seine Fähigkeiten vom Operationsraum auf die Pflege eines jungen Mädchens zu übersetzen, die wegen lähmender Polioviren mit Atemversagen zu kämpfen hatte. Dr. Björn Ibsen half dem Städtischen Krankenhaus von Kopenhagen dabei, die erste Intensivmedizinstation zu etablieren, um den Bedürfnissen dieser Patienten gerecht zu werden. (Louise Reisner-Sénélar 2011).

Weil Polio nur Menschen befällt, ist es grundsätzlich ein Kandidat für Eradikation. Die Globale Polio-Eradikationsinitiative (GPEI) arbeitet auf dieses Ziel seit 1988 hin. Die größten Hürden dafür sind sowohl politisch als auch wissenschaftlich:

Politisch, weil man eine Menge an Menschen impfen muss, um es zu erreichen, was bedeutet, dass sich die Regierungen koordinieren müssen, die meist andere Prioritäten haben. Wissenschaftlich betrachtet hat es mit den Herausforderungen durch die Polioimpfstoffe zu tun.

Es gibt grundsätzlich zwei Typen von Polioimpfstoffen:

Jonas Salk erfand im Jahr 1955 ersteren – er erzeugte inaktivierte Polioimpfstoffe (IPV). Darin wird das Virus in Zellen angezüchtet und kann davon viel produzieren. Dann werden diese behandelt, um zu verhindern, dass sie weiter repliziert werden können und somit die Erkrankung im Menschen auslösen. Der Impfstoff ist extrem wirksam, um Polio mit Beteiligung des Nervensystems (Lähmungen) zu verhindern, aber hat eher mäßige Auswirkungen auf die Verbreitung des Virus.

Die Ausbreitung kann mithilfe von oralen Polioimpfstoffen („Schluckimpfung“) unter Kontrolle gebracht werden, die Polioviren verwenden, die so angepasst wurden, dass sie die Krankheit im Menschen nicht auslösen können. Sie helfen durch gute Schleimhautimmunität dabei, Herdenimmunität zu erzeugen. Doch sie können sich weiterhin im Darm vermehren und bei genügend Replikation soweit zu mutieren, dass sie als cVDPV (circulating vaccine-derived poliovirus) paralytische Polioverläufe (VAPP, vaccine-attenuated paralytic polio) auslösen können. Diese Gefahr besteht vor allem bei geringer Bevölkerungsimmunität.

Da die Impfung selbst PP so selten gemacht haben, sind die heutigen Fälle meist VAPP von cVDPV. Um dieses Problem zu addressieren, wurden Impfstoff-Virusstränge erzeugt, die zusätzliche Mutationen aufweisen, sodass VAPP verhindert wird. Diese werden bei Ausbrüchen angewendet, doch können sie das VAPP-Risiko nicht vollständig beseitigen. GPEI überlegt daher, die Strategien zur Eradikation anzupassen. Glücklicherweise besteht keine Gefahr von VAPP bei IPV. Daher können Länder ohne epidemische Ausbrüche, wo es gezielt um die Eindämmung geht, bedenkenlos IPV einsetzen. Zudem sind sie sicher und verträglich genug für immunsupprimierte Personen.

Das führt zur Frage, was passiert, wenn die Polioimpfung insgesamt gestoppt würde [wie vom künftigen Gesundheitsminister der USA, Robert F. Kennedy, angedacht]. Die Antwort ist nicht trivial.

Polioinfektionen verursachen ein breites Krankheitsspektrum, wobei nur PP klar als Polio erkennbar ist. Doch PP ist nur für 0,5-2% aller Infektionen verantwortlich – der Rest verläuft asymptomatisch, verursacht grippeähnliche Symptome oder aseptische Meningitis. Was den Schutz betrifft, haben wir eine gute Vorstellung davon, was es braucht, um PP zu verhindern: Jedes Niveau an neutralisierenden Antikörpern im Blut, die den Poliostrang abdecken, erscheint ausreichend, um Lähmungen zu verhindern (Sutter et al. 1995). Die Folgefrage ist jedoch: Wie lange halten diese Antikörper an? Hier gibt es ein paar Datenlücken. Doch selbst, wenn Antikörper bei jenen unentdeckt bleiben, die vorher gegen Polio geimpft wurden, sollten sie weiterhin gegen PP schützen. Gedächtnis-B-Zellen können sich ausdehnen und in Antikörper absondernde Zellen differenzieren, und Polio blockieren, bevor das Nervensystem erreicht wird. Inwieweit dieser Prozess möglich ist, hängt davon ab, wie lange die Krankheit braucht, um Symptome zu verursachen.

Die verschiedenen Polioimpfstoffe sind auch bezüglich Immunität unterschiedlich. Schleimhautimmunität durch die Schluckimpfung scheint relativ rasch zu schwinden, doch kann rasch wiedererlangt werden, wenn es zum Kontakt mit dem Poliovirus kommt. Bei einer großen Mehrheit, die die Impfstoffserie vervollständigt, wurden schützende Antikörper bis zu 18 Jahre nach der letzten Dosis nachgewiesen (Larocca et al. 2022). Interessanterweise jedoch scheinen die Serumantikörper das Ausscheiden von Viren im Stuhl nicht zu beeinflussen, was ein Problem für die Eradikationsbemühungen darstellt (Abbink et al. 2005).

Eine der Folgen der Polioeliminierung ist, dass die Menschen das Virus nicht so oft bekommen, dass ihre Immunität dadurch aufgefrischt würde, was bedeutet, dass mütterliche Antikörper eher niedriger sein würden. Ob das klinisch signifikant ist, was Kleinkinder betrifft, ist nicht klar, doch wenn man die niedrige Schwelle zur Verhinderung von PP betrachtet, ist es möglicherweise ok. Das heißt, die gefährdetste Gruppe wären kleine Kinder, die zu alt für mütterliche Antikörper sind und noch nicht geimpft wurden.

In den USA ist unklar, inwiefern hier ein Puffer durch Herdenimmunität besteht. Seit 2000 wurden ausschließlich IPV verwendet, nachdem die USA ihren letzten Fall von VAPP durch die Schluckimpfung erlebt haben. Die Verwendung von IPV vor der Schluckimpfung wird VAPP zuverlässig verhindern, indem Antikörper erzeugt werden, und die Schluckimpfung wird Schleimhautimmunität hinzufügen, und die Ausbreitung unterbrechen, doch das wurde in den USA seit Jahrzehnten nicht mehr gemacht. IPV dämpft die Ausbreitung, kann das Virus aber nicht eliminieren. Möglicherweise wird es klinisch unbedeutende Infektionen mit wilden Polioviren oder cVDPV geben und Schleimhautimmunität über diesen Weg erlangt werden und daher zur Herdenimmunität beitragen. Nichtsdestrotrotz sollten wir dieses Spiel nicht spielen.

Es wäre möglich, dass die Auswirkungen der gestoppten Impfstoffkampagne verzögert eintreten und kurzfristig als Sieg betrachtet würde, da „unnötige“ Impfungen beseitigt wurden. Doch sobald die Zahl der empfänglichen Personen in der Bevölkerung zunimmt (v.a. Kleinkinder ab 6 Monaten), wären wir mit der Realität einer Generation konfrontiert, die von einer Seuche heimgesucht wird, die man längst in die Vergangenheit hätte verbannen sollen.

Schlusswort von Nirenberg:

„Anyway, this is my plea to please ensure you and your loved ones are up to date on vaccination. The schedule has been thoughtfully considered for a number of scenarios, all of the vaccines on it are important, and we have extensive data on the safety and effectiveness of each of them.“

Haltet die Impfungen in Eurem Impfpass aktuell, sie haben ihren Grund und es gibt ausreichend Daten zu ihrer Sicherheit und Wirksamkeit.