Bottom line:
SARS-CoV2 schädigt das Immunsystem im Allgemeinen nicht. Ein kleiner Teil bezogen auf die Gesamtinfektionen, der Long Covid entwickelt, kann eine höhere Infektanfälligkeit zeigen. Das ist aber nicht auf die Gesamtbevölkerung umlegbar.
HGIS-Vertreter (Hypothese, dass geschwächte Immunsysteme durch SARS-CoV2 zu mehr Krankenständen führen) beharren zum Teil darauf, dass SARS-CoV2 das luftübertragene AIDS sei.
- Wolfgang Hagen: Hat die Pandemie unser Immunsystem zerstört? (08.01.24 – Spoiler: Nein, weder Masken noch das Virus selbst)
- Martina Marx: Bin ich nach einer Covid-19-Erkrankung öfter krank? (22.12.23)
- Frederik Jötten: Löst Corona eine Immunschwäche aus? (17.02.23)
- Tim Requarth: What Is COVID Actually Doing to Our Immune Systems? The research sounds scary. It’s not bunk—but it’s important to understand its purpose. (31.01.23)
Wie SARS-CoV2 das Immunsystem während der Infektion attackiert
„It is important to point out that these immune dysregulation theories merit more investigations, but are essentially based on laboratory observations that is lacking direct support from clinical or epidemiological data.“ (Abu-Raya et al. 2023)
„Studies that identify immune changes during or shortly after infection, or only look at hospitalised people with severe disease, exclusively elderly patients, or autopsy patients (who died, by definition), or only patients who are suffering prolonged sequelae of infection are obviously not representative of the vast majority of people, especially children.“ (Covid is not destroying kid’s immune systems, 23.01.23)
Experten schränken ein, dass zahlreiche Beobachtungen vor allem aus dem Labor stammen, die akute Infektion betreffen oder ein Subset an Patienten mit schweren Verläufen, älteren, chronisch erkrankten oder verstorbenen Patienten, und somit nicht repräsentativ für die Mehrheitsbevölkerung.
Während einer Virusinfektion und kurz danach ist man anfälliger für bakterielle Infektionen (Superinfektionen), aber das darf man nicht mit Immunschwäche verwechseln.
„Die Depletion von Immunzellen ist schwierig von der banalen Umverteilung von Zellen aus dem Blut heraus. Die Mehrheit ist flüchtig und verschwindet, sobald die Infektion vorbei ist. Es kann bedeuten, dass Zellen absterben, das Blut verlassen oder in nicht ausreichendem Maß erzeugt werden.
Bei schweren Verläufen können ausreichend Entzündungsmediatoren erzeugt werden, die eine Ausfallssicherung bei T-Zellen erzeugen („activation induced cell death“). Das ist ein Schutzmechanismus gegen T-Zellen, die zu stark reagieren, weil das könnte darauf hinweisen, dass sie auf ein Selbst-Antigen reagieren. Die Behandlung mit Anti-TNF-Agenten (mutmaßlich Dexamethason und Tocilizumab) ist darauf zugeschnitten. Wahrscheinlicher ist aber, dass die Zellreduktion mit der Virusinfektion zu tun hat, die die Schleimhäute befällt. Leukozyten müssen das Blut verlassen, um wirksam an der Stelle der Infektion zu reagieren. Wenn die Infektion aufhört, normalisiert sich die Zellanzahl wieder. Im wesentlichen sieht man das bei jedem banalen Erkältungsvirus, je nachdem, wann man das Blut testet und abhängig von der Schwere der Infektion. Bei kritisch erkrankten CoV-Patienten sieht man manchmal Autoantikörper gegen Zytokine. Das kann Patienten anfälliger für andere Infektionen werden lassen“. (Edward Nirenberg, Bluesky)
HIV-Vergleiche
Molekularbiologe Emanuel Wyler meinte einmal, wenn man sich eine Skala vorstellt vom vergleichsweise harmlosen Rhinovirus am einen Ende und HIV am anderen Ende, würde sich SARS-CoV2 in Sachen Immunschäden etwa in der Mitte befinden.
Es gibt derzeit keine ausreichende Belege dafür, dass SARS-CoV2 das Immungedächtnis ähnlich löscht wie Masern und opportunistische Infektionen ähnlich schlecht abwehren kann wie nach HIV. HIV-Experte Robert Zangerle sieht opportunistische Infektionen bei SARS-CoV2 nur in Zusammenhang mit Intensivpatienten und Cortisontherapie (Immunsuppression) – er lehnt wie viele andere HIV-Experten eine Gleichsetzung von SARS-CoV2 mit HIV entschieden ab (persönliche Mitteilung).
Molekularbiologin Sylvia Kerschbaum-Gruber (Uni Wien):
„Denn das Charakteristikum von HIV ist, dass es seine Erbinformation in das Genom eines T-Zell-Subtyps, der T-Helferzellen, einschreibt. Dadurch entstehen ständig neue Viren, die die nachkommenden naiven T-Helferzellen infizieren und vernichten. Damit fehlt ein essenzieller Teil der Immunantwort, und die Betroffene können an an sich harmlosen Infektionen sterben. Diese Fähigkeit hat Sars-CoV-2 definitiv nicht.“ (STANDARD-Interview, 02/2023)
„Bei Langzeitinfektionen aufgrund von Immunschwäche müsste das Virus in spezifischen Zellen persistieren, bei HIV sind es primär T-Zellen, bei EBV B-Zellen. Wenn SARS-CoV2 überall persistieren würde, müsste man das viel häufiger nachweisen wie bei HIV.“ (Fabio Hasler, Immunologe und Mitglied der Denkfabrik Reatch)
Theorie der Immunschädigung
(Hinweis: Alle Studien gehören noch einmal gegengecheckt, ob sie sich auf akute Infektionen, Long-Covid-Patienten oder Laborbeobachtungen beziehen, und wie viel davon nach der Impfung noch gültig ist, to be done, 20.01.25)
Erste Hypothesen in Richtung Immundysfunktion gab es schon früh in der Pandemie (Li et al. 05/2020).
SARS-CoV2 infiziert Lymphozyten (Pontelli et al. 2022), indem sich die Spike-Glykoproteine direkt an das CD4-Molekül binden, welches SARS-CoV2 in T-Helferzellen eindringen lässt (Davanzo et al. 2023, Brunetti et al. 2023) , und führt zu einer Erschöpfung der T-Zellen (Bellesi et al. 2022, Vazquez-Alejo et al. 2023). Die Funktion der CD4+-T-Zellen wird gestört, in der Folge auch der CD8+-T-Zellen (Zheng et al. 2020, Pedroso et al. 2023, preprint, Omidvari et al. 2023, Gao et al. 2023).
SARS-CoV2 und HIV schädigen jeweils Stammzellen, indem sie CD4+-Lymphozyten attackieren, aber über unterschiedliche Rezeptoren (Koka and Ramdass 2023). SARS-CoV2 aktiviert Lymphozyten und Entzündungsreaktionen, die Multiple Sklerose (Palao et al. 2020) und Pilzinfektionen (Moser et al. 2021) verursachen können. Lymphozyten werden langfristig und tiefgreifend geschädigt/verändert (Zhao et al. 2020, Yang et al. 2021).
Das Immunsystem kann bei Long Covid noch monatelang geschwächt bleiben, mindestens sechs Monate lang (Song et al. 2020, Perez-Gomez et al. 2021, Phetsouphanh et al. 2022, Ryan et al. 2022, Govender et al. 2022), das betrifft allerdings ein Subset von Betroffenen, nicht alle Infizierten.
Nach einer Studie der MedUni Wien an Ungeimpften in der Wildtyp-Zeit (Kratzer et al. 2024) gibt es bis zu 10 Monate nach der Infektion Veränderungen in der Immunabwehr, die zur Verringerung von angeborenen und adaptiven Immunzellen führen. Auch epigenetische Veränderungen nach schweren Akutverläufen tragen zur langfristigen Schwächung des Immunsystems bei (Cheong et al. 2023, Boes and Falter-Braun 2023). Sowohl bei MECFS als auch LongCovid wurde Immune Exhaustion nachgewiesen (Eaton-Fitch et al. 2024).
Selbst ohne akute Spätfolgensymptome bleiben „Immunnarben“ (Microglia nodules) im Gehirn zurück, auch nach sehr leichten oder symptomfreien Verläufen. Dadurch bleibt das angeborene Immunsystem auch nach der Infektion aktiv, was chronisch-pathologische Entzündungsprozesse in Gang setzen kann. Auf bestehende Mikroschäden setzt sich dann die nächste Infektion drauf. (Plantone et al. 2024, Schwabenland et al. 2024).
SARS-CoV2 begünstigt opportunistische Infektionen, indem sich Bakterien in den Zellen genesener Patienten stärker vermehren (Yadav et al. 2023).
Das Risiko von Zweitinfektionen wird erhöht, indem die Schleimhautreinigung beeinträchtigt wird, selbst nach milden Infektionen (Vijaykumar et al. 2023).
Debunking
Der häufig geteilte kanadische Artikel zu angeblichen Immunschäden hat folgende Flaws: Keiner der Autoren ist vom Fach, weder Experten zu Coronaviren noch Immunologie, trotzdem suggeriert der Titel das.
- Immunitätsklau gibt es nicht in der Form
- Das Immunsystem wird durch CoV nicht weniger kompetent (sehr wenige Ausnahmen)
- Der Darstellung im Artikel der Natur der Immunität gegenüber respiratorischen Erregern ist komplett falsch
- Dass es zu Infektionswellen kommen würde, hat man schon am Beginn der Pandemie vorhergesagt, ohne dass es Effekte durch CoV selbst gebraucht hätte. Spezifische Antikörper sind während der Zeit der Maßnahmen zurückgegangen.
- Testverhalten gegenüber vieler Pathogene hat sich gegenüber vor der Pandemie verändert
- Die Antwort lautet nicht „wir brauchen mehr Infektionen“, außer man ist bösartig oder dumm. Die Antwort lautet, „wir brauchen mehr free lunches“, das heißt, Impfstoffe für diese Pathogene und bessere Planung, wenn man plötzlich die Verbreitung eines Pathogens über längere Zeit verhindert, dass man schnellen Anstieg empfänglicher Personen in der Bevölkerung erhält, sodass man Ressourcen ensprechend bereitstellen sollte.
- Wenn Schutzmaßnahmen zu einer Welle an endemischen Viren führten, bedeutet das, dass wir uns auch gegen sauberes Wasser und Pasteurizierung aussprechen müssten. Doch ist nicht der Punkt. Es sind nicht die Maßnahmen, sondern dass sie nicht immunisieren und kurzlebig sind. Sauberes Wasser und Pasteurizierung können dauerhaft beibehalten werden.
- schließlich können sie nicht über Immunschuld reden (mathematische Realität der Ansammlung von empfänglichen Personen), ohne das Strohmannargument mit der Hygienehypothese zu ziehen. Dabei ist es einfach nur Mathematik.
- ein anderes Argument gegen Immundebt ist, dass das Gleichgewicht nach zwei Jahren noch nicht wiederhergestellt ist. Warum sollte das der Fall sein? Wir haben ein unglaublich komplexes und dynamisches System gestört, warum sollte das zur Baseline zurückkehren?
(von Infektionsepidemiologe und Veterinärmediziner Steven Valeika, sowie Science Communicator Edward Nirenberg, Bluesky)
- die Behauptung, dass Cov19-Infektionen das Immunsystem schwächen und anfälliger für Reinfektionen machen verlinkt eine Studie zu einer Alten/Pflegeheimalterskohorte, die nicht repräsentativ für die Gesamtbevölkerung ist)
SARS-CoV2 verhält sich nach dem Lehrbuch
Ein Immungedächtnis sei keine 0 oder 100%-Sache, ergänzt Veldhoen (auf Bluesky, Zugang beschränkt). Immunität reift und passt sich an, konzentriert sich auf konservierte Stellen, bietet daher künftigen Schutz gegen neue Varianten (weshalb XEC z.B. keine riesigen Wellen erzeugt, weil kaum Unterschiede zu KP.3* davor, Herbst/Winter 2024). Bis zur ersten Infektion/Impfung, werden B/T-Zellen ausgewählt, die auf viele kleine Teile eines Pathogens (Epitope) spezifisch sind. B-Zellen machen IgM, ein wenig affiner Antikörper. Um die Affinität zu erhöhen, ist er als Pentamer anwesend. Isotyp-Wechsel gewährleisten, dass B-Zellen IgG machen. Plasmablasten erzeugen große Mengen an IgG, sind aber kurzlebig. Nach der Infektion setzt sich die AK-Reife über Monate hinweg fort, die Affinität für Epitope nimmt stark zu. Eine erneute Impfung/Infektion erhöht die Affinitätsreifung. Pathogene varianten triggern diese B/T-Zellen, die Teile der Variante erkennen, die sich nicht verändert haben und sich auf diese konzentrieren. Sie verändern sich auch in den folgenden Varianten kaum. Das Spike-Protein ist groß, mit 1273 Aminosäuren. Ein Epitop hat 8-15 Aminosäuren. Das Spike muss einen Trimer bilden, der spezifische Aminosäuren an spezifischen Orten erfordert. Es muss gespalten sein und in eine Membran eingefügt werden, und – entscheidend – an ACE2 bindend. Viele Teile können sich nicht oder nicht viel ändern. Eine Variante ist kein neues Virus, sondern weiterhin SARS-CoV2 mit ein paar Aminosäure-Änderungen. Unser Immunsystem wird sie erkennen.
Nach 3 Impfungen oder kombiniert mit Infektionen und nachfolgenden Kontakten konzentriert sich die Immunantwort auf diese konservierten Stellen, die für den Fall des Falles gegen neue Epitope Antworten erzeugen werden. Das Ergebnis ist ein sehr guter individueller Schutz. Doch das ist nicht alles. Auch auf Bevölkerungsebene synchronisieren sich die Immunantworten durch Infektionswellen. Dadurch lässt der Infektionsschutz unvermeidbar nach und zwingt das Pathogen in ein saisonales Muster. Es schützt auch die um uns herum, verringert Infektionen und Viruslast. Die zunehmenden Intervalle zwischen den CoV2-Wellen zeigen, dass die Immunität zugenommen hat, auch kleine Prozentanteile machen hier einen großen Unterschied.
Offene Fragen
Ich mache hier keine 180°-Kehrtwende, sondern lasse ein paar Restzweifel offen:
Allgemein-, HNO- und Longcovid-Ärzte berichten durchaus davon, dass Covid-Patienten nach überstandener Infektion mehr Infekte aufschnappen als ohne Covid-Infektion.
Allerdings besteht hier die Gefahr eines Selection Bias. Wer wegen Covid zum Hausarzt hat, hat in der Regel eine symptomatische Infektion, bzw. lässt sich noch testen. Wer selbst testet, ist meistens covid-aware und häufig vorerkrankt, hat also ein Interesse an einer korrekten Diagnose, um antiviral gegenzusteuern. Asymptomatische Infektionen oder sehr leichte Verläufe ohne Fieber werden meist nicht mehr erkennt. Long-Covid-Patienten haben oft ohnehin eine erhöhte Infektanfälligkeit.
Unklar ist, ob man nach einer Covid-Infektion nicht nur leichter infiziert wird, sondern auch schwerer erkrankt.
Bei einer relativen Zunahme kommt es insgesamt zu mehr Infektionen, aber der Anteil schwerer Verläufe bleibt konstant. Bei einer absoluten Zunahme nimmt der Anteil schwerer Verläufe zu, das würde für eine veränderte Pathogenität des Erregers oder eben ein geschwächtes Immunsystem sprechen.
Meines Wissens keine Studie gibt es zur Frage, ob Personen, die schon länger kein Covid hatten, eher bzw. schwerer an Influenza erkranken als mit einer rezenten Covid-Infektion.
Es könnte Langzeitfolgen geben, die wir erst in einigen Jahren sehen werden, auch bei Kindern, die großteils die Infektion gut zu überstehen scheinen. Die jetzige Generation wächst allerdings mit einer gestörten Viruszirkulation durch die Pandemie auf, mit insgesamt mehr Virusinfektionen als davor.
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Nirenberg beantwortet eine an ihn gestellte Frage, ob Covid bei Durchschnittspersonen Immundysfunktion verursacht: