Es gibt gegenwärtig drei parallel verwendete Nomenklaturen für die verschiedenen Virusvarianten von SARS-CoV2.
- GISAID-Nomenklatur: Global Initiative on Sharing all Influenza Data, seit 2008 – Untervarianten werden in Kladen (geschlossene Abstammungsgemeinschaft) zusammengefasst, nach dem Einbuchstabencode mit der relevantesten Aminosäurenveränderung, z.B. Alpha als GRY (D614G, G204R und N501Y)
- Nextstrain: seit 2015 Echtzeitdaten, ebenfalls Kladen
- Pango-Nomenklatur: seit 2020, Darstellung als phylogenetischer Baum, feinerer Maßstab als Nextstrain und GISAID.
- seit 31. Mai 2021 durch WHO: Buchstaben des griechischen Alphabets für VOI/VOC
Funktion der Pango-Nomenklatur:
Jede Linie hat eine numerische Bezeichnung, die mit A oder B beginnt. Jedes Mal, wenn sie einen Nachfolger bekommen, erhalten sie denselben Buchstaben mit einer neuen Zahl am Ende. Wenn B.1 weitere Nachfahren bekam, waren es B.1.1, B.1.2, etc… Damit die Zahlenreihen nicht zu ausschweifend wurden, zog man einen Deckel bei 3 Zahlen. Sobald eine Linie eine vierte Zahl bekam, wurden sie zum nächstverfügbaren Buchstaben im Alphabet konvertiert:
B.1.1.7 (Alpha), B.1.1.28.1 (Pi), B.1.617.2 (Delta), B.1.1.672.1 (AY.1.), bei einer Rekombination beginnt die Variante mit X.
Varianten unter Beobachtung, von Interesse und zur Beunruhigung
Seit dem 27. Oktober 2022 hat sich die WHO-Definition für eine Variant of Concern (VOC) geändert. Sie wird nurmehr vergeben, wenn es mehr schwere Verläufe, eine Überlastung der Gesundheitssysteme durch steigende Fallzahlen oder eine deutliche Abnahme der Impfwirksamkeit gegen schwere Verläufe gibt.
Seit dem 4. Oktober 2023 lautet die Arbeitsdefinition der WHO folgendermaßen:
- Variant under Monitoring (VUM): frühe Zeichen für einen Wachstumsvorteil gegenüber anderen zirkulierenden Varianten, ungewöhnlich viele Mutationen, und Community Transmission in mindestens zwei Ländern innerhalb einer 2-4 wöchigen Periode
- Variant of Interest (VOI): genetische Veränderung, die Übertragbarkeit, Immun Escape und therapeutische Intervention beeinflussen und einen nachgewiesenen Wachstumsvorteil in mindestens einer WHO-Region (Afrika, Amerika, Südostasien, Europa, östliche Mittelmeerregion, Westpazifik) aufweisen
- Variant of Concern (VOC): wie VOI, zusätzlich mindestens eine weitere Änderung, wie schwerere Verläufe, erhebliche Überlastung der Gesundheitssysteme, dadurch Gegenmaßnahmen der Öffentlichen Gesundheit erforderlich, oder deutliche Abnahme der Impfwirksamkeit verfügbarer Impfstoffe gegen schwere Verläufe
Expliziter Handlungsbedarf für WHO-Mitgliedsstaaten hinsichtlich Wiedereinführung von Schutzmaßnahmen besteht bei keiner der drei Einstufungen. Wir kennen diese Vorgehensweise von Staaten, die schrittweise trotz hoher Krankheitslast alle Maßnahmen seit Anfang 2022 beendet haben. Es nennt sich „Torpfosten verschieben“ und ist eine klassische Desinformationsmethode. Die Messlatte wird stetig nach oben verschoben, um keine Maßnahmen mehr verhängen zu müssen. Zudem werden neue Buchstaben nurmehr für eine VOC vergeben. Viele Regierungen argumentieren mit dem „milden Omicron“ um keine Maßnahmen mehr verhängen zu müssen.
Bisher mussten die Impfstoffe zwei Mal aufgrund von „Omicron-Varianten“ aktualisiert werden (BA.5 und XBB.1.5), wir hatten mehrere separate Omicron-Subvarianten-Wellen, aber dennoch nach 2 Jahren und 2000 verschiedenen Omicron-Varianten keine neue Bezeichnung. Zwischen Mai und November 2021 wurden 13 Griechische Buchstaben vergeben, viele Varianten waren einander sehr ähnlich. Manche Omicron-Varianten unterscheiden sich untereinander viel stärker (mehr zur Kritik an der WHO-Nomenklatur hier).
Echtzeit-Tracking:
- Übersicht der WHO über Variants of Monitoring, Interest and Concern
- Variant-Tracker von Cornelius Römer
Mythos „virologische Sackgasse“
Entgegen früherer Aussagen etwa von Virologe Drosten (Die Zeit, 23.11.22) sieht es nicht nach einer „virologischen Sackgasse“ aus. SARS-CoV2 ist nicht saisonal geworden und verhält sich weiterhin wie eine Driftvariante, was eine zeitnahe passende Impfstoffentwicklung erschwert (mehr zum evolutionären Druck bei SARS-CoV2 in diesem Beitrag von Adam Kucharski, 16.08.23)
Omicron war ein „shift“-Ereignis, das der vorherrschenden Immunität entkam und neuen antigenischen Raum ausbeutete, ähnlich verhält es sich imho mit JN.1.
Ursache für Mutationen und Variantenausbreitung
Mehr Infektionen sorgen über verschiedene Prozesse für mehr Virusvarianten, insbesondere chronische Infektionen in immungeschwächten Patienten, die Monate oder sogar Jahre dauern können (Harari et al. 2022, Golonzales-Reiche et al. 2023, Ghafari et al. 2024). Die Folgen von Viruspersistenz für Variantenbildung und LongCOVID werden in diesem Review betrachtet (Sigal et al. 2024).
Auch eine verringerte Wirksamkeit von antiviralen Medikamenten kann dabei eine Rolle spielen (Nooruzzaman et al. 2024).
Entgegen der Aussagen von manchen Medizinern oder Experten entwickelt sich das Virus dabei nicht zu einer milderen Form (Lustig et al. 2022 preprint).
Als potentieller Wirt für Virusentwicklung können u.a. durch das HI-Virus geschwächte Personen dienen (Cele et al. 2022, Riddell et al. 2022 – preprints), was einmal mehr betont, wie wichtig weltweite Impfgerechtigkeit wäre, aber auch spezifische Virusmutationen, die durch das antivirale Medikament Molnupiravir getriggert wurden (Sanderson et al. 2023).
Eine Person, die sich mit zwei verschiedenen Varianten infiziert hat, übertrug die neuartige Rekombinante direkt auf eine andere Person. Beide Personen waren aus anderen Gründen als Covid ins Spital eingeliefert worden (Dyrdak et al. 2024).
In Dänemark wurden im Herbst 2020 über 15 Millionen Nerze gekeult, weil man befürchtete, dass eine mutierte Coronavirusvariante zurück auf den Menschen springen könnte. Glücklicherweise war die mutierte Variante nicht übertragbarer beim Menschen (Zhou et al. 2022).
Ryan Hisner sieht starke Hinweise dafür, dass alle neuen, sich stark unterscheidenden Varianten durch chronische Infektionen entstanden sind. 77% des XBB-Genoms – einschließlich NTD und ca. 70% der RBD – kamen von BJ.1, einer BA.2-abgeleiteten Variante, die beinahe sicher von einer 4-5 monatigen chronischen Infektion abstammte und dabei 13 Spike-Mutationen aufsammelte. Doch nicht jede Variante, die auf diese Weise entsteht, hat mittelfristig Erfolg, sich durchzusetzen.
Eine Hypothese von JP Weiland (Infektionskrankheitsmodellierer):
Varianten können sich durchsetzen, wenn sie entweder infektiöser sind als vorherige Varianten oder das Immunsystem besser umgehen können. Beide Eigenschaften machen sie ansteckender (kontagiöser). Obwohl XBB.1.5 einen Wachstumsvorteil aufwies, erzeugte es weltweit gesehen keine große Welle. XBB.1.5 war infektiöser durch bessere ACE2-Rezeptorbindung, aber hatte keinen größeren Immun Escape. Dadurch eröffnete sich kein neuer Pool an empfänglichen Personen, sondern der bestehende Pool wurde einfach schneller ausgeräumt.
Die meisten Varianten, die bisher dominant wurden, weisen erhöhten Immun Escape auf und führen damit zu einem größeren empfänglichen Pool und daher zu mehr Infektionen. Der „Trick“ von JN.1 war die Immun-Escape-Mutation L455S.
Der Kniff von KP.3.1.1 und XEC waren die Glykane hinzufügenden Mutationen F59S und T22N.
Relative und absolute Häufigkeit
Relative Häufigkeit ist der Anteil an allen Sequenzen zu einem bestimmten Zeitpunkt mit einer bestimmten Variante. Mit Jahresbeginn 2024 waren 70% aller sequenzierten Samples JN.1. Die absolute Häufigkeit ist die tatsächliche Zahl an Infektionen mit einer bestimmten Variante. Diese Zahl ist unklar, weil nicht jedes Sample sequenziert wird, weil viele Fälle nicht gemeldet werden. Wir kennen den Nenner nicht. Abwasserdaten umgehen dieses Problem teilweise, weil es keine Rolle spielt, ob Leute testen. Wir kennen dadurch die absolute Virusmenge, die ausgeschieden wird, und wie sie sich zusammensetzt.
Delta wurde komplett durch BA.1 ersetzt. Obwohl BA.2 ab März in den USA relativ dominant wurde, kann nicht die Rede davon sein, dass BA.1 komplett ersetzt wurde. Bei BA.2.86 nahmen selbst die Anteile der Nicht-BA.2.86-Sequenzen (v.a. HV.1.) während der JN.1.-Welle noch zu.
Das bedeutet, dass man die Zunahme von z.b. Hospitalisierungen nicht zwingend einer bestimmten Variante zuordnen kann.
Overshoot
Bis zur BA.2-Welle wurden Peak und Abfall der Welle in Österreich maßgeblich durch Schutzmaßnahmen sowie im Fall der Alphawelle Durchimpfungen beeinflusst.
Die BA.5-Sommerwelle lief ungebremst durch, ebenso die hohe Frühwinterwelle mit JN.1 Ende 2023.
Verantwortlich für den steilen Abfall nach dem Peak der JN.1-Welle war ein sogenannter Overshoot. Die Weihnachtsferien und die beginnende Influenzawelle können ebenfalls beigetragen haben, waren aber nicht hauptverantwortlich.
Der Peak ist dort, wo effektive Reproduktionszahl ca. 1 geworden ist, also der Herdenimmunitätssschwellenwert (HIT). R_eff ergibt sich aus der Reproduktionszahl vor Immunität und der Immunität der Bevölkerung:
R_eff = R0* (1-S), wobei S der Anteil der empfänglichen Personen ist.
Alle, die sich nach dem Overshoot anstecken, sind über HIT hinausgeschossen. Das drückt R_eff dann aber weiter, weil S deutlich sinkt.
Beeinflussungen der Höhe von Infektionswellen durch nichtpharmazeutische Maßnahmen:
Die Delta-Welle im Spätherbst 2021 wurde durch den vierten Lockdown in Österreich abgeflacht, dann kamen noch die Weihnachtsferien. Das hat die BA.1-Welle deutlich gebremst. In den USA war die Delta-Welle deutlich geringer, dafür gab es nur eine BA.1-Welle. Diesen Doppelgipfel von BA.1 und BA.2 als langgestreckte Welle gab es imho nur in Mitteleuropa. Die Alpha-Welle wiederum wurde durch die Impfkampagne im Frühjahr 2021 deutlich abgeflacht und bremste den Anstieg der Delta-Welle. In einer weitgehend maßnahmenfreien Phase wie ab dem Sommer 2022 sieht man wesentlich kürzere Abstände zwischen den Wellen.
Maßgeblich zur Ausbreitung neuer Virusvarianten trägt der internationale Flugverkehr bei:
„We have never in the history of our species encountered a situation anything like this one, with a coronavirus that is infecting *billions* of hosts, year-round, repeatedly up to several times per year, and being transported all over the world through mass global travel.“
T. Ryan Gregory, 27.12.23
- Tegally et al., Dispersal patterns and influence of air travel during the global expansion of SARS-CoV-2 variants of concern (07/2023)
- De Leon et al., Unravelling Causal Associations between Population Mobility and COVID-19 Cases in Spain: a Transfer Entropy Analysis (10/2023, preprint)
Entwicklung der variantenspezifischen Pathogenität
- Gomes et al., Impact of SARS-CoV-2 variants on COVID-19 symptomatology and severity during five waves (30.11.24 – 06/2020-12/2022 – insgesamt mehr Frauen als Männer infiziert, Atemnot unabhängig von Varianten, jüngste Alterskohorte bei Delta, Durchfall seltener bei BA.1/BA.2)
- Class et al., Evolution of SARS-CoV-2 in the murine central nervous system drives viral diversification (23.08.24 – Mutationen an der Spike-Furinspaltstelle sind mit der Infektion des Gehirns verbunden)
- Wang et al., Current clinical findings of acute neurological syndromes after SARS-CoV-2 infection (09.03.24 – häufiger neurologische Komplikationen seit Omicron-Varianten dominieren)
- Reuschl et al, Evolution of enhanced innate immune suppression by SARS-CoV-2 Omicron subvariants (16.01.24 – BA.4/BA.5 pathogener als BA.1/BA.2 durch effektivere Unterdrückung der angeborenen Immunabwehr)
- Wiedenmann et al., SARS-CoV-2 variants of concern in children and adolescents with COVID-19: a systematic review (09.10.23 – Diabetes und Übergewicht während gesamter Pandemie Risikofaktoren, Kleinkinder übertragen mehr als ältere Kinder in Tageskinderstätten, unter 5% von Langzeitfolgen betroffen)
- Proust et al., Differential effects of SARS-CoV-2 variants on central nervous system cells and blood–brain barrier functions (03.08.23 – alle Varianten erzeugen Stress fürs zentrale Nervensystem, OMICRON geht mehr auf die Gefäße als frühere Varianten)
- De Melo et al., Neuroinvasion and anosmia are independent phenomena upon infection with SARS-CoV-2 and its variants (26.07.23 – Hamsterstudie, unabhängig der Varianten löst Covid19 Geruchsverlust aus und dringt ins Gehirn ein)
- Maffia-Bozzozero et al., Viable SARS-CoV-2 Omicron sub-variants isolated from autopsy tissues (22.05.23 – OMICRON geht auf Lunge und Herz!)
- Moriyama et al., Enhanced inhibition of MHC-I expression by SARS-CoV-2 Omicron subvariants (09.03.23 – Immunflucht von CD8-T-Zellen, längere Verweilzeit des Virus im Körper, LongCOVID erleichtert)
- Wong et al., Intrinsic and effective severity of COVID-19 cases infected with the ancestral strain and Omicron BA.2 variant in Hong Kong (21.02.23, preprint – OMICRON ähnlich schwer wie Wuhan-Typ, aber in Geimpften/bei Reinfektion weniger schwer)
- Moriyama et al., SARS-CoV-2 Omicron subvariants evolved to promote further escape from MHC-I recognition (23.12.22, preprint – bessere Umgehung der T-Zellen-Immunität)
- Robinson et al., Impact of SARS-CoV-2 variants on inpatient clinical outcome (19.12.22, OMICRON milder als DELTA, aber schwerer als Wildtyp)
- Machado-Curbelo et al., A Shift in SARS-CoV-2 Omicron Variant’s Entry Pathway Might Explain Different Clinical Outcomes (31.10.22)
- Looi and Mahase, Has covid-19 become milder? (27.10.22 – nein, zwar geht Omicron weniger stark auf die Lunge, aber es verschlechtert dafür Grunderkrankungen, dazu kommt LongCOVID )
- Nyberg et al., Comparative analysis of the risks of hospitalisation and death associated with SARS-CoV-2 omicron (B.1.1.529) and delta (B.1.617.2) variants in England: a cohort study (16.03.22 – 59% reduziertes Risiko von Hospitalisierung, 69% Tod, verglichen mit DELTA – keine Aussage zu LongCOVID)
- Servellita et al., Neutralizing immunity in vaccine breakthrough infections from the SARS-CoV-2 Omicron and Delta variants (26.01.22, preprint – “We found a significantly smaller rise of neutralization titers associated with milder Omicron breakthrough infection in vaccinated individuals, to only approximately one-third of the rise associated with boosting.”)
- Robert Zangerle: Omikron: Wie ansteckend ist es? Wie krank macht es? Wie wirken die Impfungen? (28.12.21)