Eigene Skizze: Sie soll verdeutlichen, dass die Virusevolution bedingt, dass die Impfstoffe immer wieder angepasst werden müssen. Das bedeutet aber auch, dass man sich nicht auf seinen 2-3 Impfungen von 2021, einer weiteren Impfung 2022 (wahrscheinlich bivalent) bzw. auf der Immunität durch eine Infektion 2022 ausruhen darf, sondern immer die neueste angepasste Impfung in Anspruch nehmen sollte, um gegen die Erkrankung am besten geschützt zu sein und zugleich das LongCOVID-Risiko größtmöglich zu reduzieren. Es gibt keine fixe Obergrenze, ab der man genug geimpft wurde – so wie es jährliche Auffrischungen bei Influenza braucht (Update: 17.07.24)

Es gibt gegenwärtig drei parallel verwendete Nomenklaturen für die verschiedenen Virusvarianten von SARS-CoV2.

  • GISAID-Nomenklatur: Global Initiative on Sharing all Influenza Data, seit 2008 – Untervarianten werden in Kladen (geschlossene Abstammungsgemeinschaft) zusammengefasst, nach dem Einbuchstabencode mit der relevantesten Aminosäurenveränderung, z.B. Alpha als GRY (D614G, G204R und N501Y)
  • Nextstrain: seit 2015 Echtzeitdaten, ebenfalls Kladen
  • Pango-Nomenklatur: seit 2020, Darstellung als phylogenetischer Baum, feinerer Maßstab als Nextstrain und GISAID.
  • seit 31. Mai 2021 durch WHO: Buchstaben des griechischen Alphabets für VOI/VOC

Funktion der Pango-Nomenklatur:

Jede Linie hat eine numerische Bezeichnung, die mit A oder B beginnt. Jedes Mal, wenn sie einen Nachfolger bekommen, erhalten sie denselben Buchstaben mit einer neuen Zahl am Ende. Wenn B.1 weitere Nachfahren bekam, waren es B.1.1, B.1.2, etc… Damit die Zahlenreihen nicht zu ausschweifend wurden, zog man einen Deckel bei 3 Zahlen. Sobald eine Linie eine vierte Zahl bekam, wurden sie zum nächstverfügbaren Buchstaben im Alphabet konvertiert:

B.1.1.7 (Alpha), B.1.1.28.1 (Pi), B.1.617.2 (Delta), B.1.1.672.1 (AY.1.), bei einer Rekombination beginnt die Variante mit X.

Varianten unter Beobachtung, von Interesse und zur Beunruhigung

Seit dem 27. Oktober 2022 hat sich die WHO-Definition für eine Variant of Concern (VOC) geändert. Sie wird nurmehr vergeben, wenn es mehr schwere Verläufe, eine Überlastung der Gesundheitssysteme durch steigende Fallzahlen oder eine deutliche Abnahme der Impfwirksamkeit gegen schwere Verläufe gibt.

Seit dem 4. Oktober 2023 lautet die Arbeitsdefinition der WHO folgendermaßen:

  • Variant under Monitoring (VUM): frühe Zeichen für einen Wachstumsvorteil gegenüber anderen zirkulierenden Varianten, ungewöhnlich viele Mutationen, und Community Transmission in mindestens zwei Ländern innerhalb einer 2-4 wöchigen Periode
  • Variant of Interest (VOI): genetische Veränderung, die Übertragbarkeit, Immun Escape und therapeutische Intervention beeinflussen und einen nachgewiesenen Wachstumsvorteil in mindestens einer WHO-Region (Afrika, Amerika, Südostasien, Europa, östliche Mittelmeerregion, Westpazifik) aufweisen
  • Variant of Concern (VOC): wie VOI, zusätzlich mindestens eine weitere Änderung, wie schwerere Verläufe, erhebliche Überlastung der Gesundheitssysteme, dadurch Gegenmaßnahmen der Öffentlichen Gesundheit erforderlich, oder deutliche Abnahme der Impfwirksamkeit verfügbarer Impfstoffe gegen schwere Verläufe

Expliziter Handlungsbedarf für WHO-Mitgliedsstaaten hinsichtlich Wiedereinführung von Schutzmaßnahmen besteht bei keiner der drei Einstufungen. Wir kennen diese Vorgehensweise von Staaten, die schrittweise trotz hoher Krankheitslast alle Maßnahmen seit Anfang 2022 beendet haben. Es nennt sich „Torpfosten verschieben“ und ist eine klassische Desinformationsmethode. Die Messlatte wird stetig nach oben verschoben, um keine Maßnahmen mehr verhängen zu müssen. Zudem werden neue Buchstaben nurmehr für eine VOC vergeben. Viele Regierungen argumentieren mit dem „milden Omicron“ um keine Maßnahmen mehr verhängen zu müssen.

Bisher mussten die Impfstoffe zwei Mal aufgrund von „Omicron-Varianten“ aktualisiert werden (BA.5 und XBB.1.5), wir hatten mehrere separate Omicron-Subvarianten-Wellen, aber dennoch nach 2 Jahren und 2000 verschiedenen Omicron-Varianten keine neue Bezeichnung. Zwischen Mai und November 2021 wurden 13 Griechische Buchstaben vergeben, viele Varianten waren einander sehr ähnlich. Manche Omicron-Varianten unterscheiden sich untereinander viel stärker (mehr zur Kritik an der WHO-Nomenklatur hier).

Echtzeit-Tracking:

Mythos „virologische Sackgasse“

Evolution von ALPHA-Coronaviren (links, wie Influenza A), BETA-Coronaviren (Mitte, wie Influenza B) und Influenza H3N2 (rechts, Driftvariante)

Entgegen früherer Aussagen etwa von Virologe Drosten (Die Zeit, 23.11.22) sieht es nicht nach einer „virologischen Sackgasse“ aus. SARS-CoV2 ist nicht saisonal geworden und verhält sich weiterhin wie eine Driftvariante, was eine zeitnahe passende Impfstoffentwicklung erschwert (mehr zum evolutionären Druck bei SARS-CoV2 in diesem Beitrag von Adam Kucharski, 16.08.23)

Trotz nur geringer Mutationssprünge können neue Varianten weltweite Wellen auslösen. BA.1 profitierte von der mangelnden Antikörperdiversität in der Bevölkerung.
Anzahl der Aminosäure-Mutationen der wichtigsten Varianten: Deutlicher Sprung mit Omicron-Varianten (BA.1-5), Rekombinanten (XBB) und BA.2.86 (JN.1), aus Subissi et al. (2024)

Omicron war ein „shift“-Ereignis, das der vorherrschenden Immunität entkam und neuen antigenischen Raum ausbeutete, ähnlich verhält es sich imho mit JN.1.

Mehr Infektionen führen zu mehr Virusvarianten, die durch Immun Escape und ACE2-Bindung für weitere Infektionswellen sorgen. Wir spielen Russisch Roulette damit, eine weitere Variante wie Delta zu kreieren (Credits Abbildung: T. Ryan Gregory, Evolutionsbiologie)

Ursache für Mutationen und Variantenausbreitung

Mehr Infektionen sorgen über verschiedene Prozesse für mehr Virusvarianten, insbesondere chronische Infektionen in immungeschwächten Patienten, die Monate oder sogar Jahre dauern können (Harari et al. 2022, Golonzales-Reiche et al. 2023, Ghafari et al. 2024). Die Folgen von Viruspersistenz für Variantenbildung und LongCOVID werden in diesem Review betrachtet (Sigal et al. 2024).

Auch eine verringerte Wirksamkeit von antiviralen Medikamenten kann dabei eine Rolle spielen (Nooruzzaman et al. 2024).

Entgegen der Aussagen von manchen Medizinern oder Experten entwickelt sich das Virus dabei nicht zu einer milderen Form (Lustig et al. 2022 preprint).

Als potentieller Wirt für Virusentwicklung können u.a. durch das HI-Virus geschwächte Personen dienen (Cele et al. 2022, Riddell et al. 2022 – preprints), was einmal mehr betont, wie wichtig weltweite Impfgerechtigkeit wäre, aber auch spezifische Virusmutationen, die durch das antivirale Medikament Molnupiravir getriggert wurden (Sanderson et al. 2023).

Eine Person, die sich mit zwei verschiedenen Varianten infiziert hat, übertrug die neuartige Rekombinante direkt auf eine andere Person. Beide Personen waren aus anderen Gründen als Covid ins Spital eingeliefert worden (Dyrdak et al. 2024).

In Dänemark wurden im Herbst 2020 über 15 Millionen Nerze gekeult, weil man befürchtete, dass eine mutierte Coronavirusvariante zurück auf den Menschen springen könnte. Glücklicherweise war die mutierte Variante nicht übertragbarer beim Menschen (Zhou et al. 2022).

Ryan Hisner sieht starke Hinweise dafür, dass alle neuen, sich stark unterscheidenden Varianten durch chronische Infektionen entstanden sind. 77% des XBB-Genoms – einschließlich NTD und ca. 70% der RBD – kamen von BJ.1, einer BA.2-abgeleiteten Variante, die beinahe sicher von einer 4-5 monatigen chronischen Infektion abstammte und dabei 13 Spike-Mutationen aufsammelte. Doch nicht jede Variante, die auf diese Weise entsteht, hat mittelfristig Erfolg, sich durchzusetzen.

Eine Hypothese von JP Weiland (Infektionskrankheitsmodellierer):

Varianten können sich durchsetzen, wenn sie entweder infektiöser sind als vorherige Varianten oder das Immunsystem besser umgehen können. Beide Eigenschaften machen sie ansteckender (kontagiöser). Obwohl XBB.1.5 einen Wachstumsvorteil aufwies, erzeugte es weltweit gesehen keine große Welle. XBB.1.5 war infektiöser durch bessere ACE2-Rezeptorbindung, aber hatte keinen größeren Immun Escape. Dadurch eröffnete sich kein neuer Pool an empfänglichen Personen, sondern der bestehende Pool wurde einfach schneller ausgeräumt.

Die meisten Varianten, die bisher dominant wurden, weisen erhöhten Immun Escape auf und führen damit zu einem größeren empfänglichen Pool und daher zu mehr Infektionen. Der „Trick“ von JN.1 war die Immun-Escape-Mutation L455S.

Der Kniff von KP.3.1.1 und XEC waren die Glykane hinzufügenden Mutationen F59S und T22N.

Relative und absolute Häufigkeit

Relative Häufigkeit ist der Anteil an allen Sequenzen zu einem bestimmten Zeitpunkt mit einer bestimmten Variante. Mit Jahresbeginn 2024 waren 70% aller sequenzierten Samples JN.1. Die absolute Häufigkeit ist die tatsächliche Zahl an Infektionen mit einer bestimmten Variante. Diese Zahl ist unklar, weil nicht jedes Sample sequenziert wird, weil viele Fälle nicht gemeldet werden. Wir kennen den Nenner nicht. Abwasserdaten umgehen dieses Problem teilweise, weil es keine Rolle spielt, ob Leute testen. Wir kennen dadurch die absolute Virusmenge, die ausgeschieden wird, und wie sie sich zusammensetzt.

Delta wurde komplett durch BA.1 ersetzt. Obwohl BA.2 ab März in den USA relativ dominant wurde, kann nicht die Rede davon sein, dass BA.1 komplett ersetzt wurde. Bei BA.2.86 nahmen selbst die Anteile der Nicht-BA.2.86-Sequenzen (v.a. HV.1.) während der JN.1.-Welle noch zu.

Das bedeutet, dass man die Zunahme von z.b. Hospitalisierungen nicht zwingend einer bestimmten Variante zuordnen kann.

Overshoot

Bis zur BA.2-Welle wurden Peak und Abfall der Welle in Österreich maßgeblich durch Schutzmaßnahmen sowie im Fall der Alphawelle Durchimpfungen beeinflusst.

Die BA.5-Sommerwelle lief ungebremst durch, ebenso die hohe Frühwinterwelle mit JN.1 Ende 2023.

Abwasserentwicklung in Wien und Gesamtösterreich seit Herbst 2021

Verantwortlich für den steilen Abfall nach dem Peak der JN.1-Welle war ein sogenannter Overshoot. Die Weihnachtsferien und die beginnende Influenzawelle können ebenfalls beigetragen haben, waren aber nicht hauptverantwortlich.

Der Peak ist dort, wo effektive Reproduktionszahl ca. 1 geworden ist, also der Herdenimmunitätssschwellenwert (HIT). R_eff ergibt sich aus der Reproduktionszahl vor Immunität und der Immunität der Bevölkerung:

R_eff = R0* (1-S), wobei S der Anteil der empfänglichen Personen ist.

Alle, die sich nach dem Overshoot anstecken, sind über HIT hinausgeschossen. Das drückt R_eff dann aber weiter, weil S deutlich sinkt.

Beeinflussungen der Höhe von Infektionswellen durch nichtpharmazeutische Maßnahmen:

Vergleich der Infektionswellen 2020-2022 in Österreich und in den USA, Quelle: Our World in Data

Die Delta-Welle im Spätherbst 2021 wurde durch den vierten Lockdown in Österreich abgeflacht, dann kamen noch die Weihnachtsferien. Das hat die BA.1-Welle deutlich gebremst. In den USA war die Delta-Welle deutlich geringer, dafür gab es nur eine BA.1-Welle. Diesen Doppelgipfel von BA.1 und BA.2 als langgestreckte Welle gab es imho nur in Mitteleuropa. Die Alpha-Welle wiederum wurde durch die Impfkampagne im Frühjahr 2021 deutlich abgeflacht und bremste den Anstieg der Delta-Welle. In einer weitgehend maßnahmenfreien Phase wie ab dem Sommer 2022 sieht man wesentlich kürzere Abstände zwischen den Wellen.

Maßgeblich zur Ausbreitung neuer Virusvarianten trägt der internationale Flugverkehr bei:

„We have never in the history of our species encountered a situation anything like this one, with a coronavirus that is infecting *billions* of hosts, year-round, repeatedly up to several times per year, and being transported all over the world through mass global travel.“

T. Ryan Gregory, 27.12.23

Entwicklung der variantenspezifischen Pathogenität