
Unbestritten ist SARS-CoV2 ein gefährliches Virus und regelmäßige Auffrischimpfungen sind ratsam, um sein Immunsystem auf dem neuesten Stand mit der Virusevolution zu halten. Eine Reihe von antiviralen Medikamenten wurde entwickelt, um schwere Covid-Verläufe zu verhindern bzw. abzumildern. Diesen Aufwand hätte man nicht betrieben, wenn SARS-CoV2 harmlos sein würde. Allerdings gibt es immer wieder unbewiesene Vergleiche von Covid mit HIV bzw. AIDS – speziell von jenen, die den #TeamVorsicht-Hashtag benutzen. Das ist keine homogene Gruppe und unter dem Hashtag findet sich von wissenschaftsbasierten Empfehlungen bis irrationalem Fearmongering leider alles. Ich werde mit dem folgenden Text versuchen, den Mythos, dass Covid airborne AIDS sei, zu widerlegen – mit den mir zur Verfügung stehenden Mitteln und Quellen. Ich berufe mich dabei oft auf Wissenschaftskommunikatoren oder -journalisten, aber auch Infektiologen, Immunologen oder HIV-Experten.
HIV und SARS-CoV2 sind grundsätzlich unterschiedlich – es handelt sich zudem um zwei verschiedene Viren. HIV befällt gezielt und bevorzugt T4-Helferzellen. Bei SARS-CoV2 sind Immunzellen nur ein Teil des breiten Wirtsspektrums. HIV baut sich ins Genom der Immunzellen ein und „lauert“ da, bis es zum Ende der Latenzzeit alles zusammenbrechen lässt. SARS-CoV2 ist kein Retrovirus, es überdauert im Körper wenn, als aktive Infektion – das ist nicht nur für die Betroffenen schlimm, sondern kann auch neue stark mutierte Varianten hervorbringen. SARS-CoV2 kann überschießende Immunreaktionen und Immundysregulationen auslösen – wie viele andere Erreger auch. Es hilft den Betroffenen nicht, wenn man beides in einen Topf wirft. Im schlimmsten Fall werden falsche Ansätze gewählt und etwa mit HIV-Medikamenten wild gegen Long Covid therapiert (Quelle: Bissiges Mäuschen, Bluesky, ein Labormäuserich)
„Denn das Charakteristikum von HIV ist, dass es seine Erbinformation in das Genom eines T-Zell-Subtyps, der T-Helferzellen, einschreibt. Dadurch entstehen ständig neue Viren, die die nachkommenden naiven T-Helferzellen infizieren und vernichten. Damit fehlt ein essenzieller Teil der Immunantwort, und die Betroffene können an an sich harmlosen Infektionen sterben. Diese Fähigkeit hat Sars-CoV-2 definitiv nicht.“ (Molekularbiologin Sylvia Kerschbaum-Gruber (Uni Wien); STANDARD-Interview, 02/2023)
Kein Konsens, dass Covid AIDS verursacht – auch keine Form von AIDS.
Die Selbstsicherheit, mit der anonym agierende Accounts ohne wissenschaftlichen Hintergrund oder Angabe von Referenzen, behaupten, dass etwa jede Infektion das Immunsystem schädigen würde, dass Reinfektionen akkumulierte Schäden verursachen und Covid („eine Form von“) AIDS auslöst, ist schon erschreckend. Diese Aussage betrachte ich durchaus selbstkritisch, weil ich als jahrelang anonym agierender Citizen Journalist auch die ein oder andere kühne Behauptung aufgestellt und gegenteilige Forschungsergebnisse ignoriert habe. Der Konjunktiv geht bei all den Aussagen häufig ebenso verloren wie im Diskussionsteil der Fachartikel aufgeführte Limitationen. Ist das ein individuelles Problem oder betrifft es die Gesamtbevölkerung? Gibt es Abstufungen je nach Alter, Impfstatus, Immunkompetenz und Grunderkrankungen? Das ist sehr wohl relevant, wenn man gezielt Prävention bei bestimmten gefährdeten Gruppen erreichen will. Ich kenne übrigens genauso Studien, die eine Abnahme des Longcovid-Risikos mit Reinfektionen zeigen. Welche Aussage stimmt nun? Der Diskurs darüber findet bestenfalls unter Wissenschaftlern statt und nicht auf Social Media. Die Frage ist auch, ob akkumulierte Infektionen anderer Viruserkrankungen unbedingt milder sind, oder ob man nicht generell Infekte mit den „bösen drei“ (Covid, RSV, Influenza) vermeiden sollte. Infektionen empfiehlt kein seriöser Arzt oder Virenexperte.
Mein Grundmotto lautet: „Nature never draws a line without smudging it.“
Das bedeutet übersetzt, sich von dogmatischen Aussagen fernzuhalten, außer anderslautende Behauptungen verstoßen gegen ethische Prinzipien. Die Natur hinterlässt uns Unschärfen, mit denen wir manchmal leben müssen. Es ist völlig legitim zu sagen, dass wir die Antwort nicht immer kennen.
Wissenschaft ist mehr als Direktübersetzungen und Zitate
Manche User hauen neue, auf Englisch erscheinende Fachartikel in ihr Übersetzungsprogramm und posten lange Threads mit wörtlichen Übersetzungen für ihre Leserschaft. Das schaut auf den ersten Blick nach einem guten Service für all jene aus, die kein Englisch können, doch bleibt der Limitationsteil häufig auf der Strecke. Fachartikel sind nicht automatisch methodisch gut gemacht, weil sie es durch den Peer-Review geschafft haben. Meta-Analysen mehrere Artikel können irreführende Schlussfolgerungen ziehen, wenn die verwendeten Artikel methodisch schlecht gemacht sind (vgl. Cochrane-Review über Wirksamkeit von Masken).
Die „airborne AIDS“-Anhänger verweisen etwa gerne auf Ximeno-Rodriguez et al. 2024. Der Artikel ist allerdings kein Ausdruck seriöser Wissenschaft. Sie versuchen von einer Computermodellierung eines Proteins mit einem weiteren Protein ausgehend zu schlussfolgern, wie das gesamte Virus das gesamte Immunsystem beeinflusst. Das ist eine Hypothese, kein Test, und suggeriert, dass Covid wie HIV agiert, was nicht stimmt. Ihre falsche Schlussfolgerung ist, dass Long Covid von einem Virus verursacht wird, das die T-Zellen-Funktion unterdrückt wird, dahingehend, dass die Betroffenen immunsupprimiert werden, so wie HIV AIDS verursacht. Sie bezeichnen das als Acquired Immunodeficiency Syndrome, wodurch sich der Vergleich aufdrängt. Das ist unverantwortlich und irreführend.
Andere verweisen auf die MedUni-Wien-Studie (Kratzer et al. 2024), die monatelange Veränderungen in der Immunabwehr zeigt. Der Studienzeitraum bezieht sich allerdings auf die Wuhan-Stamm-Zeit von 2020 – also bei immun-naiven Menschen, die vorher nicht mit dem Antigen durch Infektion oder Impfung in Kontakt kamen. Es ist fraglich, ob die beobachtete Immunschwächung bei mehrfach geimpften oder infizierten Personen so noch auftritt, sowohl quantitativ als qualitativ. Eine grundsätzliche Infektanfälligkeit nach einer schweren Virusinfektion ist kein Sondermerkmal von SARS-CoV2, sondern tritt nach vielen Viruserkrankungen auf. Sie kann mehrere Monate anhalten – was ich als weiteren Anreiz für eine regelmäßige Boosterimpfung sehen würde – auch anderer impfbarer Erkrankungen. Eine schwere Influenzaerkrankung nach einer Covid-Infektion ist vermeidbar.
Es wird etwa auch auf „Immun-Narben“ im Gehirn verwiesen – dabei ist aber die Auswahl der Patientenkohorte zu beachten. Im Fall von Schwabenland et al. (2024) waren es Post-Covid-Patienten und nicht die Allgemeinbevölkerung. Im Diskussionsteil wurde darauf hingewiesen, dass anhaltende neurologische Symptome nicht beobachtet werden konnten, auch keine typischen neuropathologischen Kernmerkmale bei Autopsieanalysen. Eine weitere Studie (Plantone et al. 2024) nach milden oder symptomfreien Infektionen zeigt höhere Biomarker nach zehn Monaten und belegt im wesentlichen die beobachteten kognitiven Einschränkungen nach einer Infektion, die aber großteils wieder verschwinden. Die Autoren verweisen auf die Hauptlimitation, die Verwendung eines Fragebogens, der auf eine Selbsteinschätzung der Befragten abzielt und „is far from diagnosing an objective neurocognitive impairment“ . Von einer (dauerhaften) Immunschädigung ist hier aber auch nicht die Rede.
Tesch et al. (2023) schlussfolgern, dass Covid das Risiko für Autoimmunität um 43% erhöht. Dabei handelt es sich aber um ein relatives Risiko. In der Studie hatten 1,1% der Teilnehmer eine Autoimmunerkrankung aufgrund von Covid entwickelt. In der Kontrollgruppe waren es im gleichen Zeitraum 0,8%. Auf Bevölkerungsebene sind 0,3% Unterschied viel, aber es ist dennoch ein sehr geringes Risiko.
Literatur zu den Unterschieden HIV/SARS-CoV2
Mangels eigener Expertise kann ich hier auch nur auf andere verweisen, die sich mit dem Thema regelmäßig auseinandersetzen. Die „Internisten im Netz“ haben schon früh in der Pandemie Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausgestellt (29.05.20).
Drei Jahre nach Pandemiebeginn wurde klar: Unsere Immunsysteme verhalten sich bei SARS-CoV2 so wie bei anderen respiratorischen Viren – es gibt immer weniger schwere Verläufe als zu Beginn der Pandemie. Das spiegelt sich auch in der Sterblichkeitsrate wieder – sowohl bei den Gesamtzahlen als auch spezifisch auf Covid bezogen (Meister et al. 2025). Impfungen bieten niemals einen 100%igen Schutz, aber sie schützen sehr gut gegen schwere Verläufe, Tod haben Krankheitsdauer und -schwere verkürzt (Ke et al. 2022). Aus der Übersichtsarbeit von Greenhalgh et al. (2024) geht hervor, dass auch stärkere Anfangssymptomatik, bzw. ein schwerer Verlauf, verschleppte Infekte und fehlende Medikation Long Covid begünstigen. Wenn Reinfektionen gehäuft auftreten, muss man sich die Frage stellen, ob es unerkannte Immundefekte gibt und ggf. nachgeforscht werden muss, da das auch bei anderen Infekten ein erhöhtes Krankheitsrisiko darstellen könnte.
Meist beziehen sich Studien über anhaltende oder schwere Immunschwächen auf schwere Verläufe. Oder es ist von „T-Zellen-Erschöpfung“ und „dendritisches Zellen-Defizit“ selbst nach milden Infektionen die Rede. Da kommt aber die Methodik bzw. das Studiendesign ins Spiel, also häufig kleine Teilnehmergruppen, insignifikante Abweichungen bei Werten, und wenige Studien haben, wenn überhaupt, den Zustand des Immunsystems vor der Infektion untersucht.
Long Covid ist auch nicht gleichzusetzen mit Immunschwäche oder Infektanfälligkeit. So gibt es keine Hinweise, dass Long-Covid-Patienten generell eine Lymphopenie entwickeln (Erlandson et al. 2024). Wiederholt auftretende Infektsymptome, insbesondere nach kognitiver und körperlicher Anstrengung, können auch auf PEM (Post Exertion Malaise) hinweisen. Dabei handelt es sich aber nicht im Virusübertragungen im engeren Sinne.
Weitere Übersichtsartikel:
- Marc Veldhoen: The Immune System Post-SARS-CoV-2 – Resilient, Adaptive, and Fully Functional (13.04.25)
- Immune system damage from COVID-19 is different from HIV/AIDS — but the advocacy has parallels (14.01.25)
- Wolfgang Hagen: Hat die Pandemie unser Immunsystem zerstört? (08.01.24 – Spoiler: Nein, weder Masken noch das Virus selbst)
- Martina Marx: Bin ich nach einer Covid-19-Erkrankung öfter krank? (22.12.23)
- M-K Gideon: The Ongoing Risk Of Long COVID (23.09.23)
- Frederik Jötten: Löst Corona eine Immunschwäche aus? (17.02.23)
- Jonathan Jarry: Does COVID-19 Mess with the Immune System? (10.02.23)
- Tim Requarth: What Is COVID Actually Doing to Our Immune Systems? The research sounds scary. It’s not bunk—but it’s important to understand its purpose. (31.01.23)
Wie könnte man eine Immunschwäche beweisen?
Dazu habe ich einmal eine „Anleitung“ des Immunologen Marc Veldhoens übersetzt, der immer wieder auf Behauptungen eingeht, dass Covid das Immunsystem schädigen würde.
Um eine Immunschwäche zu beweisen, braucht es experimentelle Studien:
- Studienkohorte mit entsprechender Größe
- Immunparameter, Zahlen und Anteile von B- und T-Zellen
- memory, effector und naive Zellen
- Dabei handelt es sich um die Grundlage jedes Einzelnen und den Durchschnitt einer Kohorte, gegen die die Immunfunktion bestimmt wird.
Etwa die Hälfte der Kohorte muss SARS-CoV2 ausgesetzt werden. Immunparameter werden gemessen. Diese Werte deuten keine Dysfunktion, sondern Aktivierung an. Danach wird die Kohorte überwacht, ob die Parameter zu den Werten vor der Infektion zurückkehren.
Nun werden alle in der Kohorte einer kontrollierten Infektion ausgesetzt, etwa intranasalen Bakterien oder Viren, doch das kann größere Variabilität verursachen und ethische Erlaubnis benötigen. Noch besser ist es, eine Impfung zu verwenden, etwa die jährliche Influenzaimpfung.
Nun wird die Antwort auf die Impfung gemessen: Antikörper, T-Zell-Aktivierung, bei Infektion: Krankheitslast über die Zeit. Was wird das Ergebnis offenbaren?
Veldhoens Hypothese (H0): Es gibt keinen Unterschied zwischen beiden Gruppen. Das wird von den Anhängern der Hypothese H1 aber stets zurückgewiesen.
- Behauptungen aufzustellen anhand von Personen, die bereits vor der SARS-CoV2-Infektion immungeschwächt waren, ist ungültig.
- Fallstudien sind unangemessen (siehe Anekdoten).
- Nur Long Covid Patienten zu betrachten, liefert ungenügend kontrollierte Daten.
Eine weitere Möglichkeit ist es, Influenza-infizierte zu verwenden, die Gruppe zu überwachen, zu impfen und Werte zu vergleichen.
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Damit es nicht zu lange wird, mache ich hier einen Punkt. In einem weiteren Beitrag möchte ich auf das Thema Korrelation und Kausalität eingehen, auf die Begrifflichkeiten Immunschuld, Nachholeffekte und wo die Risiken einer generellen Unterdrückung von Infektionen liegen könnten.
Und beizeiten werde ich meinen Ärger darüber noch ventilieren, dass es anscheinend nicht mehr möglich ist, einzufordern, sich kritisch mit Fachartikeln auseinanderzusetzen und – wenn man das nicht kann, weil die Expertise fehlt, die zu fragen, die es können, aber auch einzufordern, es objektiv zu tun, statt unangenehme Erkenntnisse wegzulassen, die nicht in die eigene Agenda passen. Auch hier gilt: Das hat eine selbstkritische Note -und ich weiß sehr sehr gut, wie schmerzhaft es ist, wenn man „aufgeblattelt wird“. Aber das gehört zum Leben und zum Reifeprozess dazu – insbesondere dann, wenn man sich selbst auf die Fahnen schreibt, ein Aufklärer sein zu wollen.