„Either you set this goal [elimination] and you don’t achieve it, but in the process, you certainly are reducing the number of lives lost. The alternative is to set a lesser goal and then still misfire.“
Jacinda Ardern, Premierministerin von Neuseeland (Dezember 2020)
Zu Beginn der Pandemie wurde versucht, SARS-CoV2 zu eradizieren, also vollständig auszulöschen, mit rascher Isolation und Quarantäne.
„Unser Problem ist, dass die WHO nach wie vor versucht, die Krankheit auszurotten, sicherzustellen, dass sie nicht auf Dauer bei uns bleibt und diese Versuche erfordern Anstrengungen. […] Ich bin mir nicht sicher, ob diese neue Krankheit wirklich schlimmer ist wie Grippe.“
Ex-Public-Health-Leiter der AGES, Franz Allerberger (Puls24, 27.02.20) verharmloste von beginn an die tragweite der pandemie.
Als die wirtschaftlichen Folgen des ersten Lockdowns nach wenigen Wochen sichtbar wurden, änderte man die Strategie und gab sich damit zufrieden, für kurze Zeit nahezu keine Verbreitung mehr erreicht zu haben. Führende Politiker erlagen dem Präventionsparadoxon und dachten, die Pandemie sei bereits besiegt worden. Die ersten Fälle im Salzkammergut in Tourismusgebieten und bei elitären Clubtreffen widerlegten diese Annahme. Statt die durch den Lockdown gewonnene Zeit zu nutzen, Testkapazitäten, Contact Tracing hochzufahren und sich mit auf den Winter vorzubereiten, gewannen die kritischen Stimmen an Einfluss.
Im September 2020 änderte man das Epidemiegesetz und fügte bei der Bewertung der Risikosituation folgenden Passus ein:
3. Ressourcen und Kapazitäten im Gesundheitswesen unter Berücksichtigung der aktuellen Auslastung der vorhandenen Spitalskapazitäten sowie der aktuellen Belegung auf Normal- und Intensivstationen
Quelle: Bundesgesetzblatt, 25.09.20
Damit erfolgte auch der offizielle Strategiewechsel von der Eliminations- zur Mitigationsstrategie: Maßnahmen ausschließlich zur Vermeidung einer Überlastung des Gesundheitssystems wie bei pandemischer Influenza. Die von Ex-Gesundheitsminister Anschober präferierte Corona-Ampel, nach der Inzidenzen ausschlaggebend für Maßnahmen sein sollten, war durch den Druck der Landeshauptleute nicht verbindlich – und somit zahnlos. Der zweite Lockdown kam zu spät und hatte zahlreiche Ausnahmeregeln. Die Bevölkerung bezahlte den mangelnden politischen Willen mit einer hohen Übersterblichkeit und vielen schweren LongCOVID-Fällen.
Der lasche Regierungskurs wurde durch einflussreiche Vertreter der „Great-Barrington-Declaration“ (GBD) maßgeblich unterstützt, die Herdenimmunität durch Masseninfektion propagierten. In Österreich hat diese neoliberale Initiative nie die kritische öffentliche Aufarbeitung erhalten, die sie verdient hätte. Statt „schwedischem Weg“ gab es nur einen richtigen Weg, den unseren. Die Gegenbewegung „John Snow Memorandum“ formulierte als wissenschaftlichen Konsensus ein Plädoyer, weiterhin alle Anstrengungen einzusetzen, um mit test-trace-isolate-quarantine (TTIQ) die Fallzahlen niedrig zu halten, die Wirtschaft damit zu schützen und Langzeitfolgen zu vermeiden:
„Furthermore, there is no evidence for lasting protective immunity to SARS-CoV-2 following natural infection, and the endemic transmission that would be the consequence of waning immunity would present a risk to vulnerable populations for the indefinite future. Such a strategy would not end the COVID-19 pandemic but result in recurrent epidemics, as was the case with numerous infectious diseases before the advent of vaccination. It would also place an unacceptable burden on the economy and health-care workers, many of whom have died from COVID-19 or experienced trauma as a result of having to practise disaster medicine. Additionally, we still do not understand who might suffer from long COVID.“
(Nisreen A. Alwan et al. 2020)
Für eine kurze Zeit schien der Aufruf zu fruchten. Im Jänner 2021 trafen sich Kanzlervertreter mit Experten und einigten sich auf eine NiedrigInzidenz-Strategie (Schwellenwert 50 pro 100 000 Einwohner). Dann setzte man die Schwellenwerte sukzessive hinauf und entschied sich schließlich endgültig zur Abkehr von einer Eliminationsstrategie hin zur Mitigation:
„Heute haben wir einmal den Grundkonsens geschaffen, dass unser Hauptblickpunkt und unser Entscheidungskriterium die Situation auf den Intensivstationen ist.“
Ex-Gesundheitsminister Anschober am 22.03.2021 (ZiB2)
Der politische Strategiewechsel wurde später auch durch Gesetzesänderungen abgesichert, sodass notwendige Gegenmaßnahmen nurmehr ab einem fiktiven Schwellenwert freier Kapazitäten auf den Intensivstationen möglich waren, der durch Datenmanipulation nie erreicht wurde.
Wofür steht NoCovid/ZeroCovid?
Es ist ein zugespitztes Schlagwort für eine Niedriginzidenz-Strategie – vergleichbar mit der politischen Forderung nach „Vollbeschäftigung“. Es ist völlig klar, dass das nicht zu 100% gelingen wird, aber man versucht es trotzdem und verringert die Arbeitslosigkeit.
Die Debatte, ob SARS-CoV2 ausgerottet werden könnte, wurde wissenschaftlich nie geführt, weil außer Frage stand, dass es möglich ist (Wilson et al. 2021, Khezri et al. 2022). Es war in Wahrheit eine Debatte der Wirtschaftspolitik, von kurz- versus langfristigem Denken. Viele Wissenschaftler und Mediziner vermischten Wirtschaftspolitik und Ideologie mit Epidemiologie und redeten der Politik nach dem Mund.
Die Wissenschaft sagt klar, was zu tun ist:
- Den Trendindikator (R) unter 1 bringen durch verschiedene Maßnahmen
- Wenn die Fälle zurückgehen, mit Contact Tracing Überträger ausfindig machen
- Isolieren, bis sie nicht mehr ansteckend sind
- so oft wiederholen wie nötig
- Problem der Tier-Reservoirs angehen
„Es ist völlig unrealistisch, das Virus zu eliminieren.“ bedeutet tatsächlich
„Wir können es nicht eliminieren ohne tiefgreifende gesellschaftspolitische, wirtschaftliche und ideologische Veränderungen.“ (welche die Macht des Geldes bedrohen)
Unabhängig vom Stadium der Pandemie, in dem wir uns jetzt befinden, gibt es weiterhin Möglichkeiten, SARS-CoV2 so stark zu unterdrücken, dass wir eine Grundinfektionsrate auf niedrigem Niveau erreichen:
- verbesserte soziale Absicherung, um sich ausreichend isolieren und auskurieren zu können (Übertragung und Long COVID!)
- Macht vom Kapital zu Behörden verlagern, um z.B. neue gesetzliche Standards für saubere Raumluft zu beschließen
- Investition in Öffentliche Gesundheit und Verbesserung der Health Literacy
- Initiativen für Weiterentwicklung der Impfstofftechnologie, um Übertragungen effektiver zu verhindern
- gerechte Verteilung der Impfstoffe in ärmeren Ländern
- Ausstattung von Gesundheitspersonal mit FFP2-Masken
- einheitliche, sinnvolle und kontrollierbare Regeln im Reiseverkehr
„Wer die Gesundheit aufgibt, um die Wirtschaft zu schützen, der wird am Ende beides verlieren.“ (abgewandelt nach Benjamin Franklin)
Länder wie Neuseeland und Australien, die lange Zeit eine ZeroCovid-Strategie gefahren sind, punkten bis heute mit einer geringeren Übersterblichkeit als Länder, die zu früh aufmachten und zu lasche Gegenmaßnahmen setzten. In beiden Ländern war abseits der Lockdown-Phasen ein völlig normales Leben möglich, mit offenen Schulen, Konzerten und besseren wirtschaftlichen Entwicklungen.
Die polarisierte Debatte in Österreich und anderen Ländern führte zu einer hanebüchenen Zuspitzung der NoCovid-Strategie:
„Du kannst nicht alle ewig einsperren.“
„Die Kinder erleiden psychische Schäden durch geschlossene Schulen und uneinholbare Bildungsverluste.“
Die vorgeschlagenenen Maßnahmen hätten im Gegenteil verhindert, Lockdowns verhängen zu müssen, sie hätten für offene Schulen mit Schutzmaßnahmen gesorgt, aber auch für soziale Absicherung von Familien, die nicht ins Homeoffice wechseln können oder sich gute FFP2-Masken leisten. Eine bessere technische Ausstattung der Schulen hätte es erleichtert, fallweise ins Distance Learning zu wechseln, so wie es im Kriegsgebiet Ukraine auch gelingt.
Es gibt zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten, die die Vor- und Nachteile einer Niedriginzidenzstrategie abgewogen haben:
- Nate Bear: The Forgotten Lessons Of Infectious Disease Control (31.01.24)
- Lazarus et al., A multinational Delphi consensus to end the COVID-19 public health threat (11/2022)
- Correia et al., Pandemics Depress the Economy, Public Health Interventions Do Not: Evidence from the 1918 Flu (2022)
- Sachs et al., The Lancet Commission on lessons for the future from the COVID-19 pandemic (09/2022)
- Czypionka et al., The benefits, costs and feasibility of a low incidence COVID-19 strategy (02/2022)
- Covid-19: An urgent call for global “vaccines-plus” action (01/2022)
- Priesemann et al., Nachhaltige Strategien gegen die COVID-19-Pandemie in Deutschland im Winter 2021/2022, Positionspapier (11/2021)
- Oliu-Barton et al., SARS-CoV-2 elimination, not mitigation, creates best outcomes for health, the economy, and civil liberties (2021)
- Calling for pan-European commitment for rapid and sustained reduction in SARS-CoV-2 infections (Priesemann et al. 2020)
- The data speak: Stronger pandemic response yields better economic recovery (03/2020)
Elvira Rosert über die NoCovid-Initiative, 28.03.24
„Die Charakterisierung der Nocovid-Strategie als autoritär empfand ich in der Tat schon immer als abstrus, wobei ich den meisten, die das taten, lieber Unkenntnis und/oder Unverständnis ihrer Inhalte als Diffamierungsabsichten zuschreiben möchte. Mit „naiv“ kann ich besser leben, wobei ich darunter – auch wieder nur mit Blick auf mich selbst – eine spezielle Form der Naivität verstehen möchte, die sich in der damaligen Situation vor allem durch 2 Elemente äußerte:
1. Die fehlende Bereitschaft, zu akzeptieren, dass in einer sozial, ökonomisch und technologisch hochentwickelten Demokratie mit einem der besten Gesundheitssysteme der Welt über Wochen täglich 1000 Leute an einer präventablen Viruserkrankung sterben. So naiv bin ich weiterhin.
2a. Beträchtliche Unterschätzung der politischen Widerstände gegen den Vorschlag einer synergetischen und nachhaltigen Pandemiepolitik, durch die nicht nur die Gesundheit, sondern auch andere Güter (Freiheit, Wirtschaft, Bildung) besser geschützt worden wären.
2b. Unerfahrenheit mit der Skrupellosigkeit der Mittel und Strategien, mit denen dieser Widerstand teilweise durchgesetzt wurde. Ich wusste natürlich, dass es das *in der Politik* gibt, aber dass es mich als Wissenschaftlerin betreffen – und wie sehr es mich treffen – könnte: öha.
Deshalb basierte die Strategie auch nicht auf Illusionen, sondern auf a) empirischen Daten. aa) Die Akzeptanz der Maßnahmen war von Anfang an hoch. Schwankungen reagierten auf Perspektivlosigkeit und verunsichernde diskursive Interventionen (of actors who must not be named).
b) Es gab nicht nur allgemeine Umfragen zur Akzeptanz der Maßnahmen , sondern auch gezielt zur Akzeptanz der Strategie. Trotz aller Verzerrungen und des erbitterten öffentlichen Kampfes dagegen gab es auch hierfür erhebliche Unterstützung in der Bevölkerung.
b) Theorie. Es waren ausgewiesene Public-Health-Expertinnen beteiligt, die ua wussten, dass gemeinschaftlich orientierte Pandemiebekämpfung effektiver ist als andere Ansätze. Dazu kam ein allgemeines, empirisch gesättigtes sozialwissenschaftliches Wissen, zB über Normen.
Damit sage ich nicht, dass es in der Nocovid-Initiative keine Fehler gab. Die gab es zuhauf (v.a. strategischer und kommunikativer Natur, kann ich als Advocacy-Forscherin selbst leicht erkennen). Nur: Nocovid war keine Kampagne und wir keine Campaigner, sondern Wissenschaftler.
Dazu die Umstände, unter denen wir die Papiere geschrieben haben: extremer Zeitdruck, ohne uns je persönlich getroffen zu haben, im Lockdown (dh mit einer Menge Kinder zuhause), mit zahlreichen anderen Verpflichtungen „nebenher“ (darunter Klinik- und Institutsleitungen).
Insofern: Weiß nicht, ob die Strategie zum Scheitern verurteilt war und die Initiative war, wie gesagt, in einigen Aspekten naiv, aber given the circumstances war mehr wahrscheinlich nicht rauszuholen (wenn man überhaupt den Anspruch hatte, etwas verändern zu wollen).“
„Es sei wissenschaftlich erwiesen, dass Versammlungs- und Ausgangsbeschränkungen, Homeoffice-Regelungen, Schulschließungen, Maskengebote sowie die Testpflichten und Kontaktverfolgung erfolgreich gewesen seien. Schlechte Evidenz gebe es bei der Schließung von Geschäften. Auch der Erfolg der Hygienekonzepte sei aus Sicht der Wissenschaft bisher nicht geklärt. „Die Evidenz ist manchmal auch deswegen wackelig, weil die Studien dazu nicht gut genug angelegt waren“, so Drosten.
T-Online, dpa (22.03.24)
Wenn man hier und bei zahlreichen anderen Aspekten faktengetreu kommuniziert, aber auch medial kritisch nachgefragt hätte, dann hätte man den Pandemieleugnern viel Wind aus den Segeln nehmen können. So hat die Regierung leider selbst Pandemieleugnung betrieben und tut es immer noch, und stärkt damit die Positionen der Pandemieleugner. Sie fühlen sich durch „öffentliche Eingeständnisse“ führender Wissenschaftler und Politiker („Impfpflicht war ein Fehler“, „Schulschließungen waren ein Fehler“, „Lockdowns wären nicht nötig gewesen“, Pressekonferenz vor Weihnachten) bestätigt, es geht ihnen aber nicht weit genug, wie die Reaktionen auf Social Media zeigen.