Daten, Fakten, Aufklärung

Wer zu oft Wolf schreit…

Bis zur XBB.1.5-Welle im März 2023 waren meine Einschätzungen hinsichtlich neuer SARS-CoV2-Infektionswellen recht zuverlässig. Es gab naturgemäß bis zu diesem Zeitpunkt auch viel mehr Daten als heute und zumindest bis zum Winter schrieben auch die meisten ExpertInnen noch auf Twitter und wanderten nicht zu Mastodon oder woanders hin ab. Damit befand ich mich ziemlich im Einklang mit allen führenden Expertinnen und es gab eigentlich keine Überraschungen. Dann lehnte ich mich im März 2023 mit XBB.1.16 etwas zu weit aus dem Fenster – unglücklicherweise wurde ausgerechnet dieser Beitrag von einem reichweitenstarken Follower recht prominent repliziert, sodass nachträgliche Korrekturen nicht mehr sichtbar waren. Die große XBB.1.16-Welle fiel aus – andere Experten, mittlerweile nicht mehr auf Twitter vertreten, hatten frühzeitig abgewunken – zu groß die Kreuzimmunität durch BA.5 im Winter 2022/2023 und der erst eben abgelaufenen XBB.1.5-Welle. Aus Schaden wird man klug und seitdem bin ich deutlich vorsichtiger beim Ausrufen neuer Wellen. Zudem entledigte ich mich einiger Möchtegernexperten auf Twitter, die sich als „Große Klappe, nichts dahinter“ entlarvt hatten oder von seriösen ExpertInnen entlarvt wurden. Hochstapler gibt es leider nicht nur auf Seiten der Verharmloser, sondern auch auf der der „Doomer“. Friendly fire sozusagen, mit dem man sich unglaubwürdig macht.

Der Übergang in der ausklingenden Phase der Pandemie ist in jeder Hinsicht schwierig. Gänzlich überwinden, dass wir SARS-CoV2 dauerhaft zirkulieren lassen, werde ich es wohl nie. Man hätte mehr tun können, aber zum Zeitpunkt der Pandemie regierten die völlig falschen Personen, die einen völlig falschen Zeitgeist wiederspiegelten: 20 Jahre Neoliberalismus haben ihre Spuren hinterlassen, dank Facebook und Telegram ist der Stammtisch bis in die Parlamente vertreten und rechtsextremes Gedankengut erlebt mit dem Aussterben der letzten Zeitzeugen des Nationalsozialismus einen neuen Aufschwung, scheinbar ohne Gegenwehr durch die Sozialdemokratie.

Die Voraussetzungen waren denkbar ungünstig, auch nur irgendwie aus der Pandemie zu lernen. So waren die ersten Monate der Pandemie entgegen dem Zeitgeist geprägt von echter Solidarität (Nachbarschaftshilfe) und Pseudosolidarität (Klatschen für Systemerhalter), die FPÖ forderte einen strengen Lockdown und alle Parteien waren sich ausnahmsweise einig, dass gehandelt werden musste. Diese gegenseitige Rücksichtnahme war zu unwirklich, als dass sie längere Zeit Bestand hätte haben können. So gesehen kippten wir im Laufe vom ersten Pandemiejahr bald wieder in den „default“-Zustand von „Ich zuerst!“ – unterstützt durch das Präventionsparadoxon (düstere Prognosen nicht eingetreten, WEIL gehandelt wurde) und allen voran leider auch Law-and-Order-Advokat Falter-Chefredakteur Klenk, der die Grundrechte in Gefahr sah durch Ausgangsbeschränkungen und weitere Schutzmaßnahmen (ja, es hat überschießende Maßnahmen wie Parkanlagen sperren und Parkbanksitzen kriminalisieren gegeben, aber das ist nicht der Punkt).

Im Mai 2023 erklärte die WHO auf politischen Druck hin die Internationale Gesundheitsnotlage (PHEIC) für beendet, nicht aber die Pandemie. Ab hier schieden sich auch in der Experten-Community die Geister. Manche sahen die Pandemie gleichzeitig mit der PHEIC beendet, andere unabhängig davon weiter eine Pandemie. Unabhängig von Begrifflichkeiten zirkulierte SARS-CoV2 aber weiter, sorgte für schwere Krankheitsverläufe und weitere LongCOVID-Fälle.

Mit Ende der Meldepflicht im Juni 2023 stiegen die Fallzahlen langsam wieder an – die XBB-Escape-Untervariante EG.5.1 setzte zum globalen Aufholen an, aber nur sehr langsam, bis die BA.2.86-Variante („Pirola“) mit JN.1 als erfolgreichste Franchise-Variante die Herbstwelle in Gang brachte, die die Welt regelrecht überrollte. Inmitten der sich anbahnenden Herbstwelle fiel die ORF-Dok1 „Die verschwundene Seuche“ von Hanno Settele (Faktencheck) und die Pressekonferenz der österreichischen Bundesregierung mit dem Titel „Nach Corona“ just zum JN.1-Maximum der Abwasserinzidenzen (Faktencheck).

Entgegen meinen und so manch anderen Erwartungen bildeten die Ableger von JN.1 keine langgestreckte Welle aus, wie etwa mit XBB.1.5 oder mit der Doppelwelle aus BA.1/BA.2. JN.1 wurde dominant und blieb es, während die Abwasserzahlen stark absanken und unten blieben und auch heute, Stand Anfang April 2024, weiterhin unten sind. Das muss man auch einfach mal zur Kenntnis nehmen, dass es nicht so schlimm ist wie befürchtet. SARS-CoV2 ist deswegen nicht weg und weitere Wellen sind wahrscheinlich mit neuen Varianten.

Höchst unterschiedliche Pandemiejahre

Abwasserinzidenzen (01/2022-04/2024) und Inzidenzen durch bestätigte Fälle (03/2020-07/2023) in Österreich, Datenquellen: Abwassermonitoring Österreich und Our World in Data

So richtig berechenbar war SARS-CoV2 spätestens dann nicht mehr, als die Varianten ins Spiel kamen. Die zweite Welle im Herbst 2020 wurde erwartet, nachdem man die erste Welle durch die Schutzmaßnahmen stark gedämpft hatte. Der Großteil der Bevölkerung hatte dahin noch keinen Kontakt mit dem Virus, war „immun-naiv“ und somit voll empfänglich. Ich erinnere mich noch, wie Krammer und Drosten jeweils im Kurier bzw. ZiB2 im April 2020 vor der Winterwelle gewarnt haben. Die Wald- und Wiesenexperten der Regierung wollten bis zum Spätsommer nichts von einer zweiten Welle wissen.

Das zweite Pandemiejahr zeigte mit Alpha und Delta wieder einen zweigipfligen Verlauf, wobei die exponentiellen Wiederanstiege 2020 und 2021 jeweils Mitte Juni begannen (Saisonal my ass – Influenza zeigt so ein Verhalten nicht). Mit der Impfkampagne im Frühjahr zwang man Alpha in die Knie, aber die Impfrate war zu gering, um Delta entscheidend zu drücken.

Im dritten Pandemiejahr dominierten die Omicron-Varianten, von der Politik und den regierungsnahen Experten schlicht als „Omicron und Vorbereitung auf den Herbst“ geframed. Tatsächlich gab es in Österreich fünf Wellen mit mindestens vier verschiedenen Unter-Varianten von Omicron. Die Inzidenzen blieben selbst in den Wellentälern sehr hoch (über 1000 neue Fälle pro Tag). Im Spätherbst und Frühwinter 2023 wurde die Lage erstmals undurchsichtig mit der „Variantensuppe“: Verschiedene Untervarianten von Omicron, die alle dieselben Escape-Mutationen aufsammelten („konvergente Entwicklung“), aber keine wurde dominant.

Im vierten Pandemiejahr zeigte sich wieder ein anderes Bild, das mehr an das erste Pandemiejahr erinnerte: Ein moderater Gipfel mit der XBB.1.5-Welle und markanter Gipfel durch die JN.1-Welle, davor ein gleichmäßiger Anstieg mit EG.5.1 mitten im Hochsommer bis in den Herbst, der – wie wir alle wissen, bis in den Oktober hinein höchst sommerliches Wetter hervorbrachte.

Das Jahr 2024 startet nun mit niedrigen Abwasserwerten, das zeigen auch die Abwasserdaten aus Wien:

2022/2023 (blau) und 2023/2024 (rot) in Wien, Datenquelle: Stadt Wien, abgerufen am 05.04.24

Niedrig heißt hier: Wirklich sehr sehr niedrig, vergleichbar mit dem ruhigen Frühsommer 2023 (zwischen abklingender XBB.1.5-Welle und beginnender EG.5.1.-Welle).

Stand 2. April 2024: Influenza B 5%, Influenza A: 1,5%, Rhinoviren 18%, Parainfluenza: 5%, humane Metapneumoviren 4%, SARS-CoV2: 1,5%, Quelle: Zentrum der Virologie/ Aberle und Redlberger-Fritz

Die Sentineldaten vom 31.03.24 stützen diese Einschätzung – seit etwa Mitte Februar 2024 wird SARS-CoV2 kaum noch nachgewiesen (unter 2% der Proben bei sinkender Probenzahl insgesamt).

Beim Grippemeldedienst von Wien befanden wir uns Ende März immer noch überdurchschnittlich hoch, gleich unter der starken Saison 2022/2023.

Kalenderwoche 13 – 25.-31.03.24 – grippale Infekte (inkl. Covid) und echte Grippe, Hochrechnungen der Stadt Wien, Datenquelle: Stadt Wien, gemeinsam mit den niedrigen Abwasserinzidenzen spricht einiges dafür, dass die vielen Fälle Ende März 2024 überwiegend durch Rhinoviren, Influenzaviren und Parainfluenzaviren verursacht wurden, nicht durch SARS-CoV2.

Hospitalisierung mit SARS-CoV2-Infektion

Aufnahme auf Normal- und Intensivstationen mit SARS-CoV2-Diagnose ab Mitte Mai 2023 bis Mitte März 2024. Die SARI-Daten der letzten 4 Wochen sind jeweils unvollständig, in der 9. Kalenderwoche lagen 65 Patienten auf der Normalstation und 3 Patienten auf der Intensivstation, tendenziell eine weitere Abnahme.

Das deckt sich auch mit den anekdotischen Schilderungen von Patienten und Spitalsärzten, demzufolge kaum noch SARS-CoV2 beobachtet werden.

In UK zeigen sich ganz ähnliche Trends, worauf auch Christina Pagel, Mitglied der Independent SAGE in ihrem lesenswerten Blogartikel hinweist. Ich stimme ihrer Grundaussage vollinhaltlich zu:

„So, while I alert people when there are signs of a new surge (most recently the JN.1 wave in December), I am also clear on when things are getting better or flat and low, like right now (see below).“

Wenn es Anzeichen einer neuen Welle gibt (vor kurzem JN.1 im Dezember), alarmiere ich die Leute. Ich sage aber auch klar, wenn die Situation besser wird oder die Zahlen niedrig sind wie derzeit – und da kann ich ihr nur beipflichten. In letzter Zeit häufen sich leider unsachliche Attacken auf Expertinnen und Experten, die sich in den letzten Jahren durch seriöse Einschätzungen und LongCOVID-Aufklärung einen Namen gemacht haben.

Von Pagel verwende ich z.B. schon länger ihre Darstellung des Teufelskreislaufs aus hohen Infektionszahlen und neuen Mutationen:

Verwendung im Menüpunkt Pandemiefolgen

Würde sich so eine Minimiserin äußern, die die Pandemiefolgen negiert? Nein. Das trifft ebenso auf Isabella Eckerle, Florian Krammer und andere zu, denen ich seit Beginn folge und denen man bisher keine groben Fehleinschätzungen vorwerfen konnte.

Es ist daher sehr wohl legitim zu sagen: Wir haben derzeit eine ruhigere SARS-CoV2-Phase. Die Werte sind nicht bei Null, das werden sie nie mehr sein, aber sie sind so niedrig, dass andere Viruserkrankungen derzeit im Vordergrund stehen, allen voran die Masern, aber auch Keuchhusten und vielleicht in näherer Zukunft die Vogelgrippe.

Ich checke täglich oder alle zwei Tage den Stand der Variantenentwicklung. Da zeigen sich immer mal wieder potentiell gefährliche Varianten, die eine neue Welle auslösen können. Die meisten von ihnen erwerben aber nicht genügend neue Mutationen, um sich einen deutlichen Wachstumsvorteil gegenüber den bestehenden Varianten zu verschaffen.

Konvergente Varianten, die in der Folge von JN.1 entstehen – mit der Zeit sammeln alle dieselben Escape-Mutationen auf, vor allem F456L und R346T („FLiRT“) und T572l (KZ.1.1.1 ist die erste Variante, die alle drei Mutationen vereint), Stand 04. April 2024

Daher kann ich zum jetzigen Zeitpunkt nur die Empfehlung geben, die Pause von SARS-CoV2-Infektionen zu nutzen und all das zu tun, was man in den letzten Jahren aufgrund der ständig hohen Infektionszahlen nicht machen konnte oder wollte. Die FLiRT-Varianten werden wahrscheinlich Wiederanstiege verursachen, aber unklar ist, wie hoch diese Welle werden kann. Finnland ist derzeit das einzige Land mit einem klaren Aufwärtssignal diesbezüglich. In Bayern gibt es zunehmend steigende Zahlen, aber auf niedrigem Niveau.

Ein großer Unsicherheitsfaktor bleibt die EM 2024 in Deutschland Mitte Juni, sowie natürlich gänzlich andere Varianten mit Wachstumsvorteil, die sich durch die weltweit sinkende Sequenzierrate unbemerkt ausbreiten. Aber zum jetzigen Zeitpunkt kann ich nicht Wolf schreien, wenn ich keine Wölfe sehe.

Man darf ruhigen Gewissens davon ausgehen, dass ich zur Vorsicht mahne, wenn es wieder nach oben geht.

Das Engagement für LongCovid/MECFS-Betroffene und für mehr Lufthygiene bleibt davon unbeeinflusst. Das ist weiterhin sinnvoll und richtig. Die Betroffenen verschwinden ja nicht, weil gerade kaum SARS-CoV2 zirkuliert.

1 Kommentar

  1. Sebastian K.

    Danke dafür. Ich bleibe bei FFP2 im Innenraum mit vielen Personen. Da ja kaum noch getestet wird, weiß man halt nicht, was die neben einem stehende erkältete Person da aushustet. Aber insgesamt wird es jetzt erstmal entspannter, da man wieder viel draußen mit guter Durchlüftung unternehmen kann. Obwohl in Deutschland die Abwasserviruslast derzeit noch über der von letztem Sommer ist. Aber wie du schreibst, weg wird es nie sein, ein Restrisiko bleibt gerade im Innenraum immer, zumal bei Ignoranz der anderen.

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