Es gibt klare, anerkannte Diagnosekriterien für MECFS nach dem Institute of Medicin (IOM) 2015 (auf Deutsch) und den kanadischen Konsenskriterien (CCC). Leitsymptom ist die Post Exertion Malaise, die Belastungsintoleranz, die mindestens 14 Stunden lang anhält.
MECFS ist eine schwere neuroimmunologische Erkrankung, die oft zu einem hohen Grad der körperlichen Behinderung führt. Ein Viertel aller Patienten kann das Haus nicht mehr verlassen, viele sind bettlägerig und über 60% arbeitsunfähig. In Deutschland sind etwa 250 000 Menschen betroffen, weltweit sind es 17 Millionen (vor der Pandemie).
„ME/CFS-Erkrankte leiden unter einer ausgeprägten Zustandsverschlechterung ihrer Symptome nach geringer körperlicher und geistiger Belastung (sogenannte Post-Exertional Malaise). Dazu gehören eine schwere Fatigue (krankhafte Erschöpfung), kognitive Störungen, ausgeprägte Schmerzen, eine Überempfindlichkeit auf Sinnesreize und eine Störung des Immunsystems sowie des autonomen Nervensystems.“ (Quelle: Deutsche Gesellschaft für MECFS)
Die Prävalenz für MECFS beträgt in Österreich rund 0,3% – das sind 25000 Betroffene VOR Pandemiebeginn. MECFS ist also KEINE seltene Erkrankung und dafür leider sehr unbekannt. Obwohl die Lebensqualität unter jener von MS-Patienten liegt, gibt es keine Anlaufstellen für MECFS in Österreich. Ärzte nehmen MECFS-Patienten vor allem als „schwierig“ wahr (Habermann-Horstmeier et al. 2023, 549 Patienten berichten über ihre Erfahrungen mit dem Gesundheitswesen) – Frauen werden häufiger nicht ernstgenommen als Männer (Habermann-Horstmeier und Horstmeier 2024), in der Schweiz sprechen 90,5% der befragten MECFS-Patienten nicht über ihre Krankheit, weil ihnen niemand glaubt, die Krankheit trivialisiert wird und sie negative Reaktionen vermeiden wollen, mehr als ein Drittel der Betroffenen hat Suizidgedanken, weil behauptet wird, dass die Krankheit nur psychosomatisch sei. (König et al. 2024).
Ohne ein Kompetenzzentrum ist Grundlagenforschung mit Studienteilnehmern schwierig. Dabei wollen viele Betroffene aktiv mitmachen – Blutabnahmen und Stuhltests über Hausbesuche würden bereits ausreichen, um Basisdaten zu sammeln. Die Pflege von schwerstkranken MECFS-Patienten ist eine Herausforderung (Montoya et al. 2021).
Es gibt keine spezialisierte Fachärzte in Österreich, das Thema steht auch in der Fachausbildung der Neurologen nicht am Lehrplan. In der Abteilung für Primary Care Medicine wurde LongCOVID/MECFS erstmals seit der Übernahme durch Prof. Kathryn Hoffmann thematisiert, die auch an der S1-Leitlinie zu LongCOVID mitgearbeitet hat. Sie vermutet, dass durch Covid19 inzwischen rund 60000 MECFS-Patienten in Österreich hinzugekommen sind.
Betroffene werden von Behörden und Ämtern häufig schikaniert, das zeigt auch ein Bericht der Volksanwaltschaft (20.05.23).
Konsensus-Statement im D-A-CH-Raum (Mai 2024)
„Das Ziel dieses D-A-CH-Konsensusstatements ist es, 1) den aktuellen Wissensstand zu ME/CFS zusammenzufassen, 2) in der Diagnostik die kanadischen Konsensuskriterien (CCC) als klinische Kriterien mit Fokus auf das Leitsymptom post-exertionelle Malaise (PEM) hervorzuheben und 3) vor allem im Hinblick auf Diagnostik und Therapie einen Überblick über aktuelle Optionen und mögliche zukünftige Entwicklungen aufzuzeigen.“
Neuer Praxisleitfaden für die Versorgung von Betroffenen (Juni 2024)
Hainzl et al., Care for ME/CFS – Praxisleitfaden für die Versorgung von ME/CFS Betroffenen (20.06.24)
Schweregrade
PEM
PEM ist NICHT …
- nach einer Aktivität müder als gewohnt sein
- Dekonditionierung (längere Aktivitätspausen)
- Der Muskelkater am Tag danach
PEM ist kein Leistungsabfall nach Anstrengung, was dazu führt, dass PEM-Betroffene auf einer Reha überaktiviert werden „wenn es zu viel wird, hören wir auf“ – mobilisierende Trainingseinheiten werden bei vermeintlich PEM-Betroffenen als förderlich erlebt, was ein falsches Bild erzeugt.
Ursache für PEM
Als gängige Hypothese gilt die Schädigung der Mitochondrien (Kraftwerke der Zellen). Können sie sich nicht regenerieren, bekommt der Körper zu wenig Energie.
„ME/CFS ist eine erworbene, sich selbst reproduzierende Mitochondriopathie der Skelettmuskeln.“
Wirth und Scheibenbogen, riffrefporter 2024
Hintergrund sei demnach ein gestörter Natrium-Calcium-Austausch in den Muskelzellen, der die Mitochondrien schädigt. Coronaviren greifen die Blutgefäße an und und können zu kleinsten Verstopfungen führen. Das kann auch zu einem Sauerstoffmangel führen und neben Muskulatur auch Herz und Gehirnfunktion beeinträchtigen. Die Muskeln werden nicht ausreichend durchblutet, wodurch sich die Mitochondrienschädigung ausweitet. Grund für die Schädigung können orthostatischer Stress (POTS) sein, mit Gleichgewichtsproblemen, sowie Auto-Antikörper, Dauerausschüttung von Adrenalin und weitere Trigger.
Der Sauerstoffmangel im Blut erzeugt auch einen Mangel an ATP. Alles läuft im Endeffekt auf einen Calcium-Überschuss hinaus, die die Mitochondrien schädigen. Die Mikroblutgerinnsel scheinen zwar nach ein paar Jahren auszuheilen, die mitochondriale Dysfunktion bleibt aber. Als Reaktion auf den Energiemangel würde der Körper mit der vermehrten Ausschüttung von Gewebshormonen reagieren, die jedoch in die Blutbahn übertreten und die zirkulierende Blutmenge weiter reduzieren. Gefäßerweitertende Hormone erreichen auf diesem Weg alle Organe und können neben Schmerzen, Krämpfen auch Erschöpfung und „Brain Fog“ auslösen.
Nach Wirth tritt PEM dann ein, wenn die Natrium-Schwelle in den Muskelzellen erreicht ist, die den Natrium-Calcium-Austauscher NCX in den umgekehrten Modus schaltet. Durch neue Schädigungen verringert sich die Anzahl intakter Mitochondrien. Ein bettlägeriger Patient kommt aus diesem Teufelskreislauf kaum noch heraus, sagt Wirth.
Potentielle Medikamente würden die angenommene Fehlsteuerung im Ionenhaushalt der Muskelzelle korrigieren. Im Herbst 2025 soll eine Phase-1-Studie mit einem potentiellen Wirkstoff durch das Start-up Mitodicure beginnen, so die Finanzierung bis dahin gewährleistet ist.
Anmerkung: Es ist eine noch nicht in allen Stadien beweisbare Hypothese, die hier vorgestellt wurde. Demzufolge soll ein Mechanismus alles von MECFS erklären. Was ich nicht beurteilen kann: Bei schwer betroffenen Patienten, wo bestimmte Offlabel-Medikamente schon geholfen haben? Hatte es dann andere Ursachen, oder hat man damit den Pathomechanismus unterbrochen?
Literaturliste, die diese Hypothese untermauern soll:
- Wirth and Löhn, Microvascular Capillary and Precapillary Cardiovascular Disturbances Strongly Interact to Severely Affect Tissue Perfusion and Mitochondrial Function in Myalgic Encephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome Evolving from the Post COVID-19 Syndrome (2024)
- Osiaevi et al., Persistent capillary rarefication in long COVID syndrome (2023)
- Wirth and Löhn, Myalgic Encephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome (ME/CFS) and Comorbidities: Linked by Vascular Pathomechanisms and Vasoactive Mediators? (2023)
- Batiha et al., Pathophysiology of Post-COVID syndromes: a new perspective (2022)
- Kell et al., A central role for amyloid fibrin microclots in long COVID/PASC: origins and therapeutic implications (2022)
- Wirth and Scheibenbogen, Pathophysiology of skeletal muscle disturbances in Myalgic Encephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome (ME/CFS) (2021)
- Wirth et al., An attempt to explain the neurological symptoms of Myalgic Encephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome (2021)
- Van Campen et al., Numeric Rating Scales Show Prolonged Post-exertional Symptoms After Orthostatic Testing of Adults With Myalgic Encephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome (2021)
- Ackermann et al., Pulmonary Vascular Endothelialitis, Thrombosis, and Angiogenesis in Covid-19 (2020)
- Varga et al., Endothelial cell infection and endotheliitis in COVID-19 (2020)
- Feno et al., Crosstalk between Calcium and ROS in Pathophysiological Conditions (2019)
- Scheibenbogen et al., Immunoadsorption to remove ß2 adrenergic receptor antibodies in Chronic Fatigue Syndrome CFS/ME (2018)
- Gerkau et al., Reverse NCX Attenuates Cellular Sodium Loading in Metabolically Compromised Cortex (2017)
- Loebel et al., Antibodies to β adrenergic and muscarinic cholinergic receptors in patients with Chronic Fatigue Syndrome (2016)
- Brookes et al., Calcium, ATP, and ROS: a mitochondrial love-hate triangle (2004)
Weitere Studien:
- Michal Rurek: Mitochondria in COVID-19: from cellular and molecular perspective (2024 – Virus hijacked Mitochondrien, führt zur Dysfunktion )
- Yang et al., Infection and chronic disease activate a systemic brain-muscle signaling axis (2024)
- Guarnieri et al., Core mitochondrial genes are down-regulated during SARS-CoV-2 infection of rodent and human hosts (2023)
Überschneidungen von LongCOVID mit MECFS
Für MECFS alleine bin ich nicht der richtige Ansprechpartner, da kennen sich patientenorientierte Organisationen besser aus, die sich seit vielen Jahren oder Jahrzehnten schon damit auseinandersetzen, z.B. die Österreichische Gesellschaft für MECFS-Hilfe, die Tempi-Stiftung (seit 2020) oder die von der Firma Ströck aus persönlicher Betroffenheit gegründete Stiftung Weandmecfs (zwei Söhne sind 2016 und 2018 an MECFS erkrankt).
Long COVID ist ebenso wenig Einbildung oder psychisch bedingt wie MECFS. Das ist durch zahlreiche Biomarker bewiesen. Laut Neurologe Stingl erfüllen ca. 20% der MECFS-Patienten auch die Kriterien für das hypermobile Ehler-Danlos-Syndrom (hEDS), das sich oft mit MCAS, POTS und SFN überschneidet (Thread dazu mit mehr Infos).
Drehschwindel und Reduktion der Gehirndurchblutung sind ebenfalls Gemeinsamkeiten von LongCOVID und MECFS (Van Campen et al. 2021), weitere Symptome wurden in beträchtlichem Maße übereinstimmend gefunden (Sukocheva et al. 2022, Kedor et al. 2022).
Das sogenannte cerebrospinal fluid proteom (spezielle Proteine) zeigen bei MECFS und LongCOVID gemeinsame Auffälligkeiten und unterscheiden sich deutlich von der Kontrollgruppe (Biomarker?)
Weder für Betroffene von LongCOVID noch von MECFS ist hilfreich, dass österreichische Neurologen veraltete und widerlegte Studien zitieren, wie in Ludwig et al. (2023).
Dr. David Kaufmann sieht bei allen seiner ME/LC-Patienten folgende Symptome dieser Liste:
- MCAS
- Dysautonomie/POTS
- akute und chronische Infektionen mit Viren und Bakterien
- Autoimmunität
- Geschädigtes Bindegewebe (Ehler-Danlos-Syndrom)
- Cranial Cervical Instability (CCI)
- Verdauungsprobleme, SIBO
aus dem Livestream vom 6.7.24 von Physics Girl (schwer von MECFS-Betroffene)
Prävalenz für MECFS durch LongCOVID
Eine Verlaufsstudie der Uni Jena zeigt, dass nach rund 250 Tagen 31% der Betroffenen die Kriterien für MECFS erfüllen, nach 400 Tagen noch 15%. Gleichzeitig gab es deutlich Beeinträchtigte, die die Kriterien formal nicht erfüllten (Reuken et al. 2023).
Risikofaktoren
Bei Lutz et al. 2021 hatten 6,5% der MECFS-Patienten einen IgA-Mangel, ggüber Gesamtbevölkerung max 1%, davon 17.6% mit IgG3 und IgG4-Mangel. Conrey et al. 2023 zeigen, dass IgA-Mangel das Immunsystem schwächt. IgA-Mängel treten z.B. bei primären Immundefekten auf.
Faktoren, die MCAS (Mastzellenaktivierungssyndrom) begünstigen, spielen ebenfalls eine Rolle (Gorman and Syed 2022). Das könnte erklären, weshalb H1/H2-Blocker bei einem Teil von LongCOVID-Betroffenen helfen (Glynne et al. 2021).
Ein Protein namens WASF3, das die Mitochondrien-Atmung unterbricht und die Belastungsintoleranz beeinflussen könnte, könnte ursächlich für MECFS sein (Wang et al. 2023 – Bericht hier).
Beiträge auf meinem Blog Coronawissen zu MECFS
- Zusammenfassung des CRASH-Symposiums im Künstlerhaus Wien (18.08.23)
- Internationaler ME/CFS-Tag: Ehrliches Interesse nur mit Forderung von Prävention (12.05.23)
Medienberichte zu MECFS seit der Pandemie
- Leben mit ME/CFS: „An schlechten Tagen kann ich gar nichts tun. Außer Atmen.“ (17.08.24)
- ars boni 516: Nikolaus Forgó im Gespräch mit Sabine Hermisson zum Severe ME Awareness Day (08.08.24)
- Dr. Sabine Hermisson: Die am schwersten Betroffenen – die Perspektive einer pflegenden Angehörigen (08.08.24)
- Interview mit Cihan Çelik : „Von einem Sommerloch kann in der Klinik keine Rede sein“ (27.07.24, Paywall)
- Ingrid Spilde: Why does physical activity exacerbate symptoms in ME/CFS and long Covid patients? (07.07.24)
- Anton Prlic: Long Covid: Betroffene in Salzburg beklagen fehlende Hilfe (07.06.24, Paywall)
- Eja Kapeller für Dossier: Fortbildung mit Nebenwirkungen: ME/CFS und Post Covid sind für viele Mediziner·innen Neuland. Umso wichtiger sind Fortbildungen. Doch dort werden mitunter Inhalte vermittelt, die Patient·innen schaden können (04.06.24)
- ME/CFS: Med-Uni Graz startet Ausbildung für Studierende (04.06.24)
- Experte Putrino: Umgang mit ME/CFS ist einer der „größten Medizinskandale“ (08.04.24, APA)
- Kathryn Hoffmann: „Zehntausende werden medizinisch vernachlässigt“ (28.03.24)
- Presseaussendung: Versorgungskrise spitzt sich weiter zu: Abbau von Strukturen statt Aufbau von Expertise (07.09.23)
- Prof. Bernhard Schieffer von der Uni Marburg tituliert MECFS als „hochdramatische Erkrankung“ und fordert ganz dringend Forschungsmittel (ZDF-Bericht, 08.08.23 – verfügbar bis 2025)