Virologe Drosten in der „Zeit“ am 23. November 2022 (BA.5-Welle)
Evolutionäres Muster bei der Variantenentwicklung von SARS-CoV2 seit der Omicron-Untervariante BA.5, Credits: JP Weiland

Vorhersagen sind schwierig, besonders, wenn sie die Zukunft betreffen. Das scheint nicht nur auf Meteorologen und Wahlforscher zuzutreffen, sondern auch auf Virologen. Wir erleben in regelmäßigen Abständen weitere Revolutionen, die zu globalen Wellen führen – unabhängig von der Jahreszeit. Nach der Übernahme durch eine Variante bildet sich jeweils eine Variantensuppe aus, bei der verschiedene Untervarianten ähnliche Spike-Mutationen aufsammeln, die alle einen gewissen Wachstumsvorteil bewirken. Das führt zu geographisch begrenzten Infektionswellen. Schließlich kommt der Sprung auf eine neue Variante – im Fall von XBB.1.5 war es die Rekombination zweier älterer Varianten, bei BA.2.86/JN.1 eine chronische Infektion über Jahre.

Mit der hohen JN.1-Welle im Dezember 2023 hätte es mal wieder ausgestanden sein können, doch SARS-CoV2 ist einfallsreich und arbeitet an einem kontinuerlichen Verbesserungsprozess. Im April könnte es dadurch weltweit die nächsten signifikanten Wiederanstiege geben, egal, ob gerade Frühling oder Herbst herrscht.

FLiRT-Varianten am Vormarsch

Die ersten JN.1-Nachkommen waren noch nicht erfolgreich: Zwar nahm ihr Anteil unter allen Varianten zu, aber die Abwasserwerte insgesamt dennoch weiter ab. Jetzt gibt es erneut eine sogenannte konvergente Entwicklung. Dabei sammeln verschiedene Varianten dieselben Spike-Mutationen auf, die zu einem Wachstumsvorteil verhelfen. Im Fall von JN*-Varianten werden diese FLiRT genannt – von F456L und R346T kommend. Beide sind sozusagen „alte Bekannte“: F456L war die entscheidende Immun-Escape-Mutation, die zum globalen Wachstum von EG.5 (XBB.1.5 + F456L) verholfen hat, und R346T wurde in Zusammenhang mit der XBB-Muttervariante gesichtet, auch sie führt zu höherem Immun Escape. Das finde ich einfach faszinierend, dass bekannte Mutationen aus früheren Varianten mit anderen Mutationen neu kombiniert weiterhin ausreichen, den Pool empfänglicher Wirte immer wieder zu erweitern. Oder weniger kompliziert ausgedrückt: Es gibt keine langlebige Immunität gegen Ansteckung, wenn man sich mit Corona infiziert hat – eine langlebige Immunität gegen dieselbe Variante bringt wenig, wenn die nächste Welle von einer ganz anderen Variante erzeugt wird.

Generell schwierig sind derzeit Ländervergleiche, denn andere Länder haben unterschiedliche Impfraten, aber auch Wellenpeaks gehabt, manchmal sogar unterschiedliche Varianten. Was in den USA oder in Schweden eine hohe Welle auslöst, muss bei uns in Österreich noch lange keine hohe Welle auslösen – sie kann aber wie im Fall von JN.1 noch viel höher sein – weil so viele Impfmuffel hier leben und sowohl Health Literacy als auch öffentliche Gesundheitskommunikation ein pain in the ass sind. Wenn ich sehe, welche Mythen und Aberglauben rund um Erkältungskrankheiten generell existieren, wie sehr Keuchhusten und Masern um sich greifen und wie wenig die Menschen gewillt sind, ihr Verhalten der Bedrohung durch (neue) Krankheitserreger anzupassen, dann wird die Befürchtung weiterer Infektionswellen wohl nur allzu berechtigt sein. Was nützen sommerliche Temperaturen, wenn niemand lüften oder Luftreiniger benutzen will, krank in die Arbeit oder in die Schule kommt und beim abendlichen Stammtisch im Wirtshaus fröhlicher Virenaustausch stattfinden kann? Draußen bleibt das Ansteckungsrisiko logischerweise gering, aber drinnen ändert sich wenig – lediglich die Bereitschaft zum Lüften kann etwas zunehmen.

Spannend wird es Mitte Juni mit Beginn der Fußball-EM in Deutschland, wenn Zuschauer aus ganz Europa anreisen und die Spiele entsprechend als Virendrehscheibe fungieren können, wie damals die EM im Sommer 2021, die die Delta-Welle befeuert hatte. Die JN.1-erworbene Immunität wird dann ein halbes Jahr her sein und sich waning immunity bemerkbar machen. Spekulativ gewinnt eine der FLiRT-Varianten das Rennen um die Pole-Position mit einer moderaten Welle – und vor oder nach der EM kommt die nächste Saltation (evolutionärer Sprung) mit einer ganz neuen Variante, die spätestens im Herbst 2024 wieder eine große Welle verursacht.

Sich nicht narrisch machen lassen

Wenn ich über aktuelle Entwicklungen zu Varianten und potentiell neuen Wellen berichte, ernte ich gelegentlich Reaktionen, dass man sich nicht von jeder neuen Variante „narrisch machen lassen soll“ und „zu Tode gefürchtet ist auch gestorben„. Wer so reagiert, hat wahrscheinlich selbst Angst und reduziert diese künstlich, indem er seine Gefühle anderen umhängt (Nr 2: Projektion). Denn wenn es wortwörtlich am Arsch vorbeigehen würde, könnte man die bad news einfach ignorieren. Ich habe keine „Angst“ oder „mache mich verrückt„, wenn ich über neue Varianten erfahre, die möglicherweise neue Wellen auslösen. Es bedeutet lediglich, dass ich die ein oder andere risikoreiche Situation wieder auslasse, wenn die Abwasserinzidenzen ansteigen und der Hustenindikator in den Öffis ausschlägt. Das ist ungefähr so, wie wenn ich am Wochenende eine Bergtour plane und die Wettermodelle ein erhöhtes Gewitterpotential zeigen. Dann plane ich um, verkürze die Tour, baue eine „Exit-Strategie“ ein oder einen früheren Start, um den Gewittern möglichst aus dem Weg zu gehen. Smartes Risikomanagement, um in der Sprache unserer Zeit zu bleiben. Seit ich meinen Blog nicht nur zum Auskotzen verwende wie zu Pandemiebeginn, sondern um wissenschaftliche Themen zu erarbeiten, betrachte ich die allgegenwärtige Bedrohung immer auch aus der Sicht eines Naturwissenschaftlers – so wie ich bei Schwergewitterlagen mit Radar- und Satellitenbilder mitfiebere und anschließend Fallstudien schreibe.

Die Opfer der Pandemie nicht vergessen

Es geht wieder und wieder nur darum, wer unter den Maßnahmen gelitten habe, und nicht, wie viele Tote und Schwerkranke damit verhindern werden konnten. Es geht auch nie darum, was die Folge verfrühter Lockerungen und zu später Maßnahmen in den Schulen war, nämlich mehr Schwerkranke und Tote als mit rechtzeitigem und angemessenem Eingreifen. Der Status quo ist ebenfalls unerträglich – wenn man sich die Virenschleuder Bildungs- und Gesundheitswesen einmal genauer ansehen würde. Da ist noch gar nicht die Rede von der mangelnden Absicherung von chronisch kranken Menschen, die schon immer die Arschkarte in der Gesellschaft gezogen haben.

„Fast schon wieder vergessen: heute vor Vier Jahren erlebten wir in Österreich den ersten lockdown. Die langzeit-folgen überschauen wir immer noch nicht ganz. Schüler:innen fielen zurück, Vorallem dort wo die Eltern nicht gleich Nachhilfe sind […]“

Historikerin und Falter-Journalistin barbara Tóth, twitter (16.03.24)

FALTER-Journalistin Tóth ist schon früh falsch abgebogen, nämlich gleich zu Pandemiebeginn auf den schwedischen Weg. So schrieb sie im Protokoll über den österreichischen Beraterstab am 9. März 2020:

„Sie alle argumentieren mehr oder weniger für das, was später als schwedischer Weg bekannt wird. Kein radikaler Lockdown, sondern kluges Risiko- und Ressourcenmanagement.”

Wie klug dieser Weg wirklich war, dafür könnte man jetzt verschiedene Messgrößen heranziehen – etwa die Gesamtsterblichkeit, die in Schweden im Gegensatz zu Österreich weiterhin erfasst wird:

Kumulierte bestätigte Todesfälle, die direkt auf SARS-CoV2 zurückfahr sind, für skandinavische Länder und Östereich, Stand März 2024

Da stieg die Sterblichkeit mit der ungebremsten Durchseuchung gleich in der ersten Welle stark an und auch in der zweiten Welle. Zuletzt auch in der JN.1-Welle. Österreich und Norwegen erfassen SARS-CoV2 bedingte Todesfälle nicht mehr. Finnland und Dänemark haben jedenfalls eine bessere Bilanz vorzuweisen.

Ergebnisse der Pisa-Studie: In Schweden, wo die Schulen immer offen waren, war der Rückgang der Bildungsleistung größer als im OECD-Durchschnitt. Österreich schnitt besser ab. Wenn die Zahlen eines mit Gewissheit zeigen, dann, dass es keinen klaren Zusammenhang zwischen Schulschließungen und Lerndefiziten gibt (siehe Bericht im Schweizer Tagesspiegel, 05.12.23)

Man könnte bezogen aufs Bildungswesen auch die Pisa-Studie von 2023 heranziehen, wonach Schweden mit 0 Tagen geschlossenen Schulen schlechter dasteht als Österreich mit 74 Tagen. In meiner Kolumne vom 11. Dezember 2023 bin ich näher darauf eingegangen.

Was aber auch bezüglich Schweden untergeht: Wie viele Menschen sind chronisch und schwerwiegend von LongCOVID/MECFS betroffen, weil sie sich infolge der umgebremsten Durchseuchung bis zur Ankunft der Impfstoffe angesteckt haben? Wie viele mehr wären in Österreich betroffen gewesen und hätte man sogar etliche Opfer verhindern können, wenn der zweite Lockdown früher gekommen wäre und nicht aufgrund der Wien-Wahl viel zu spät?

Statt Pandemierevionismus zu betreiben, könnte man Betroffene von postviralen Erkrankungen allgemein unterstützen, z.B. bei den folgenden Veranstaltungen: