So beeindruckend die Zivilgesellschaft in Deutschland auf die NS-Phantasien der rechtsextremen Parteien reagiert – in Deutschland äußern sich sogar Fußballtrainer in der Öffentlichkeit -, so enttäuschend ist ihre Abwesenheit in der Pandemiephase, in der hohe Infektionszahlen mit allen schwerwiegenden Folgen normalisiert worden sind. Hunderttausende protestieren gegen eine Ideologie, die mit der erfolgreich umgesetzten Great-Barrington-Declaration in der Pandemie bereits Einzug in die Lebensrealität vieler Menschen gehalten hat, die eine SARS-CoV2-Infektion nicht schadlos überstanden haben bzw. sie weiterhin vermeiden müssen. Die Pandemie hat von Beginn an überproportional Menschen mit niedriger Bildung und anderer Herkunft betroffen, aber genauso alte und kranke/behinderte Menschen. Die Mehrheitsgesellschaft wähnt sich in der „alten Normalität“, „nach Corona“, doch die alte Normalität starb 2019. Jetzt gibt es nurmehr die Wahl, ein Sozialleben mit oder erhöhtem SARS-CoV2-Infektion zu pflegen. Das kann dazu führen, dass vulnerable Angehörige versterben oder schwerkrank zurückbleiben.
Deswegen wirken diese ganzen maskenlosen Demos ohne jede Schutzmöglichkeit scheinheilig: Es ist sehr leicht, sich „gegen Rechts“ zu positionieren, aber im Alltag dann das Gegenteil zu leben. Wo war diese „Zivilgesellschaft“ in den letzten vier Jahren der Pandemie? Wie empathisch ist die Mehrheitsgesellschaft jetzt mit Menschen, die sich immer noch schützen wollen oder müssen? Wie geht sie mit den neuen chronisch Kranken um? Wie viel Verständnis hat sie dafür, wenn man lediglich darum bittet, bei Symptomen eine Maske zu tragen und zu testen? Wo sind die Aufrufe der Organisatoren der „Demos gegen Rechts“, in größeren Menschenansammlungen eine Maske zu tragen, damit all jene „Vulnerable“, die das erste Opfer einer faschistischen Wiederkehr sind, sich beim Protest inkludiert sehen?
Sich vom rechten Gedankengut abzugrenzen und laut gegen die AfD oder FPÖ zu demonstrieren reicht nicht. Es ist der Umgang mit den Mitmenschen, die Handlungen, die man setzt, die zeigen, ob man es ernst mit dem „Nie wieder ist jetzt!“ meint. Ich sehe diesen Ernst in weiten Teilen der jetzigen Zivilgesellschaft nicht.
Ich rufe ausdrücklich dazu auf, bei der Demo gegen Rechts morgen, 26.1.24, vor dem Parlament in Wien, 18 Uhr, teilzunehmen – aber bitte mit FFP2-Maske, erst Recht bei Symptomen.
(Kurzfassung – für ausdauernde Leser gibt es auch eine Langfassung, siehe unten, bitte nicht beschweren, dass es so lang ist, ich kann mir leider nicht helfen)
Ein kurzer Abriss, in welcher Situation wir uns nach vier Jahren Pandemie befinden und was die Zivilgesellschaft dazu beigetragen hat:
In den ersten Wochen ab Pandemiebeginn erlebte ich viel gegenseitige Rücksichtnahme. Wir erinnern uns an Balkongespräche mit den Nachbarn, denen wir vor der Pandemie bisher aus dem Weg gingen. Es gab die zugegeben bald deplatzierten „Klatschaktionen“ für das Gesundheitspersonal, die die akute Krise anfangs mit mangelhafter Schutzausrüstung bewältigen musste – vor allem, da auf unzureichende OP-Masken gesetzt wurde statt auf FFP2-Masken. Es gab aber auch die Kampagne für ein Miteinander statt Gegeneinander: „Schau auf mich, schau auf Dich“ – und wir erlebten trotz einigen Unbelehrbaren, dass sich die große Mehrheit an die Covid-Verordnungen gehalten hat. Der Erfolg war eine rasche Reduktion der Neuinfektionen und einen beinahe „Zero-Covid“-Zustand Ende Mai bis Mitte Juni. Warum nur beinahe? Es waren rückblickend betrachtet wohl doch mehr Neuinfektionen im ersten ruhigen Frühsommer der Pandemie als damals in den Daten erkennbar, wie die spätere Korrektur der Todesfälle gezeigt hat (aufgrund der Anzahl der Todesfälle lässt sich auf eine bestimmte Anzahl an Neuinfektionen zurückrechnen).
Das berüchtigte Präventionsparadoxon hat maßgeblich dazu beigetragen, dass die strengen Kontaktbeschränkungen später als übertrieben dargestellt wurden. Von wenigen besonders betroffenen Regionen mit Superspreadereignissen abgesehen (v.a. Wintersportorte, aber auch Chor-Cluster) kannte kaum jemand jemanden, der an SARS-CoV2 verstorben oder schwer erkrankt war. Ich erinnere mich noch, wie wütend ich war, dass erste Berichte über „genesene“ Personen hinter der Paywall von PRESSE und Kurier verborgen waren. Denn das Bedürfnis war groß zu erfahren, wie gut zuvor gesunde, jüngere Menschen die Infektion wegsteckten. Denn spätestens ab den ersten Berichten über lungengeschädigte Taucher war klar, dass eine Infektion nicht zwingend folgenlos bleiben würde. Die Zivilgesellschaft begann den Ernst der Pandemie zunehmend zu hinterfragen und schon vor dem zweiten Lockdown hörte ich im beruflichen Umfeld Kommentare wie „erneut Maske tragen oder Lockdown trägt die Bevölkerung nicht mehr mit„, so als ob man während eines Krieges die Wahl hätte, auf den Bunker zu verzichten, weil man keine Lust mehr auf Bomben hatte. Die Zweifler und Genervten bekamen zunehmend eine Bühne – mit False Balance in den Medien und durch die Oppositionsparteien, die sich von der gemeinsamen Linie mit der Regierung in der ersten Welle emanzipierten und ab sofort aus Prinzip dagegen waren. Die Verkünder vom Pandemieende und „alles nicht so schlimm“, von Streeck über Sprenger und Bhakdi bis Allerberger und Apfalter, bekamen Zulauf, denn natürlich ist Verdrängung viel leichter als sich einer realen Gefahr tatsächlich zu stellen, so wie Raucher ihr Lungenkrebsrisiko kleinreden und „die Oma war Kettenraucherin und ist auch 90 geworden“. Eine Entzugstherapie und Stressfaktoren im Leben reduzieren sind natürlich viel aufwendiger und erfordern viel mentale Stärke.
Wir erinnern uns an die aufgeweichten Lockdownregeln und den Pausen für das Weihnachtsgeschäft und Weihnachtstreffen, und die kürzeren Schulschließungen, was alles in der Summe dazu geführt hat, dass die Lockdowns zwei, drei und vier viel länger dauern mussten als es hätte sein müssen, wenn man die Zeit besser genutzt hätte, strukturelle Maßnahmen aufzustocken (wie Testkapazitäten steigern, Contact Tracing dauerhaft personell aufstocken, gratis Schutzmaterial für die Bevölkerung, Empfehlungen für saubere Luft in Bildungseinrichtungen umsetzen, auch Kinder testen). Der Protest der Bevölkerung wuchs im gleichen Maße, wie die Regierung Wirtschaft und Pflichtprogramm (Arbeit und Schule) beinhart durchzog, aber in der Freizeit weiterhin starke Beschränkungen vorhanden waren.
Menschen anderer Herkunft wurden von Beginn an diskriminiert
Von Beginn an im Nachteil waren überproportional Menschen mit Migrationshintergrund, die aber an vorderster Front standen. Wo hat sich die Zivilgesellschaft für sie eingesetzt, dass sie besser geschützt wurden, mehr soziale und finanzielle Absicherung hatten? Viele wurden vor Einführung der Kurzarbeit oder auch danach noch gekündigt, vor allem im Dienstleistungssektor. Im Herbst 2020 erschien ein Interview mit Intensivmediziner Gustorff der Klinik Ottakring, der berichtete, dass überproportional viele Migranten auf den Intensivstationen lagen. Aufgrund der vorgeschobenen Barriere Datenschutz und Amtsgeheimnis war es nie möglich, die Erkrankungsrisiken mit Berufsgruppen oder Herkunft zu verknüpfen, um gezielt Prävention betreiben zu können. Ich gehe soweit, dass Prävention nicht gewünscht war und daher die Daten nicht zur Verfügung stehen sollten.
Wie begründete die damalige Chefepidemiologin der AGES, Daniela Schmid, die mangelnden Verknüpfungen?
“Wenn ein Ausbruch eine bestimmte Ethnie oder Religionsgemeinschaft betrifft, ist völlige Transparenz immer heikel. Wir Österreicher haben ja schon x-mal in unserer rühmlichen Vergangenheit bewiesen, dass Menschen sofort stigmatisiert und diskriminiert werden.”
Schmid in der „Zeit“ (Juli 2020)
Es ist die Ironie der Geschichte, dass die AGES ausgerechnet mit Verweis auf Österreichs Rolle im Nationalsozialismus eben diese Daten nicht zur Verfügung gestellt hat. Daten können immer missbraucht werden und wir haben in den letzten Jahren zig Mal gesehen und erlebt, dass dies getan wurde, auch ohne Transparenz:
- Ex-Bundeskanzler Kurz, der im Herbst 2020 behauptete, Migranten vom Balkan hätten das Virus bei ihrem Verwandtenbesuch im Sommer erneut eingeschleppt
- AGES-Chefinfektiologe Allerberger, der in einem Vortrag für die Uni Salzburg im Februar 2020 über SARS-CoV2 mehrfach Nazidiktion verwendete („Schreibtischtäter“, „Blutauffrischung“) und sich rassistisch über Flüchtlinge und Migranten äußerte.
„Die serbischen Regalschlichterinnen, die im Sozialraum gemeinsam schlecht durchlüftet ganz hinten, kleiner Raum, das Mittagessen einnehmen, stecken sich natürlich untereinander an, weil sie sich unterhalten in der Muttersprache.„
„Wie ich meine Public-Health-Ausbildung bei John Hopkins-gemacht hab, war ich ganz einmal frustriert, weil bei allen Beispielen nicht gerechnet wurde zwischen Äpfel und Birnen wie wir es in der Volksschule in Österreich lernen, sondern zwischen Schwarze und Weiße. Ich hab das nie ganz verstanden, denn die Schwarzen, die ich kenne, da hat praktisch jeder mal einen weißen Urgroßvater oder irgendwas Weißes drinnen.“
Allerberger beim Primärversorgungskongress am 22.09.2020 in Graz, gemeinsam mit Martin Sprenger veranstaltet – heikle Zitate wurden später aus dem Video entfernt.
„…und Sie sehen, das dauert eine gute Woche, 14 Tage, dann tritt nach der ersten Impfung schon der Schutz ein, und der Bezirk Schwaz hat mit Abstand die niedrigste Rate, und die paar Fälle, die wir dort sehen, sind durch die Bank in Rumänien, Bulgarien, Serbien und dergleichen, weil dort natürlich auch nach wie vor Reisetätigkeit ist, weil viele in Schwaz, im Bezirk Schwaz auch Verwandte in Osteuropa haben, von dort eingeschleppt.“
„Indien hat 1,4 Milliarden Einwohner. Ob wir jetzt eine Flugverbindung nach Schwechat haben, ja oder nein, das ist irrelevant. Selbstverständlich haben unsere Kollegen, die Sikh-Kommune, die derzeit in der Steiermark, ist von einem Ausbruch betroffen, natürlich schwappt das über.“
Allerberger bei einem Vortrag bei den „Wiener Bluttagen“ (Juni 2021)
Zu Allerberger habe ich in epischer Länge und Breite recherchiert. Wo waren damals die Proteste von den antifaschistischen Initiativen, Vereinen und Organisationen wie DÖW, Stoppt die Rechten und anderen, die diese rassistischen und fremdenfeindlichen Ressentiments anprangerten und etwa die Absetzung von Allerberger gefordert haben? Bis 2023 wurde die AGES von zwei FPÖ-Mitgliedern, die zugleich in der vom DÖW als rechtsextrem eingestuften Burschenschaft „Oberösterreicher Germanen Wien“ Mitglied waren, geleitet, als Geschäftsführer und im Aufsichtsratsvorsitz. Das ORF-Wirtschaftsmagazin Eco kam ein Jahr nach mir auf diesen Sachverhalt, für den frisch angetretenen Gesundheitsminister Rauch war das neu, aber geändert hat sich nichts.
Bezug der Pandemie zum Rechtsextremismus
Um es abzukürzen – der Rest der Geschichte ist schnell erzählt. Die Great-Barrington-Declaration (GBD) formierte sich im Herbst 2020 mit dem Grundtenor:
„Vulnerable schützen (bis sie geimpft sind), aber die große Mehrheit mit geringem Risiko soll so leben wie vorher.“
Dahinter steckt natürlich eine rechtskonservative, wirtschaftslastige Ideologie – denn Schutzmaßnahmen behinderten immer den Markt, die Gier, das Wachstum, und sollten so sparsam wie möglich eingesetzt werden. Vulnerable waren nicht das Zielpublikum der GBD-Vertreter, denn Kinder und Pensionisten arbeiten nicht (mehr) und chronisch Kranke und behinderte Menschen werden schon heute oft im Job diskriminiert, etwa durch niedrigen Kündigungsschutz, wenig Homeoffice-Möglichkeiten und überhaupt wenig Jobchancen (lieber Ausgleichstaxe zahlen…).
„Es trifft nur Vulnerable“ und „Hatte er Vorerkrankungen?“ erinnert an „Es trifft nur illegale Einwanderer“ bei den Deportationsplänen, aber beginnt schon mit „wer fleißig ist und arbeitet, darf bleiben„, denn über Integrationsbarrieren wie schwere psychische Traumata durch Krieg, Folter und Vertreibung spricht dabei niemand.
Diese Einteilung in nützlich und unnützlich, in lebenswert und lebensunwert aufgrund von Grunderkrankungen hat seine Wurzeln im Nationalsozialismus:
Ich weiß, diese Propaganda-Abbildung aus der NS-Zeit ist starker Tobak, aber ich bringe sie trotzdem. Heute könnte man „Erbkranker“ durch „Vulnerable/Risikogruppen“ ersetzen.
“Wenn es um Kosten und Nutzen einer Maßnahme geht, wird unweigerlich die Frage zu beantworten sein, welchen wirtschaftlichen Wert eine Reduktion der Corona-bedingten Sterblichkeit mit sich bringt. […] In anderen Worten geht es darum, dem geretteten Leben eines Menschen einen ökonomischen Wert beizumessen und dies den Kosten der Maßnahme gegenüberzustellen.”
Schweizer Prof. Teodoro Cocca von der JKU Linz, 14.10.20, OÖN
“Trotzdem kann ich die Maßnahmenplanung nicht ausschließlich daran ausrichten, was für die am meisten gefährdete Gruppe gerade notwendig ist.”
(Gesundheitsminister Rauch,10.03.22, DERSTANDARD)
Aus Furcht vor der MFG und den Pandemieleugnern in den eigenen Reihen und der FPÖ wies die Regierung die Strategie „Gräben zuschütten, Versöhnungsprozess nach Vorbild Apartheid“ aus, um die Täter zu schützen und die Gegner zu besänftigen. Es hätte die letzten Jahre sehr viele Ansätze gegeben, „Nie wieder!“ auch in Form konkreter Aktionen zu zeigen. Wo war der breite Aufschrei, als Rechtsextreme die Ärztin Lisa-Maria Kellermayr in den Suizid getrieben haben? Ihr Tod war in Deutschland viel länger noch medial ein Thema als in Österreich. Der SPÖ waren und sind interne Grabenkämpfe wichtiger. Die meisten Gewerkschaften sympathisieren leider mit der FPÖ in Sachen Pandemiepolitik. Ich kann nicht alles der FPÖ ablehnen, aber in Sachen „Pandemiemaßnahmen waren übertrieben, es trifft eh nur Vulnerable, Kinder kann man beliebig oft durchseuchen“ stimmt man ihnen zu.
Ob jemand einen leichten oder schweren SARS-CoV2-Verlauf bekommt, hängt von angeborenen oder erworbenen Risikofaktoren ab. Manchmal gibt es auch keine bekannten Risikofaktoren für Spätfolgen. Hier zu sagen „schütze dich selbst, Hauptsache, ich habe meine Freiheit!“ ist eugenisches Denken. Es war eine Jüdin mit Behinderung, die die Eugenik in der Pandemiepolitik am Holocaustgedenktag aufgegriffen hat. Wer traut sich, ihr ins Gesicht zu sagen, dass man diese Vergleiche angeblich nicht ziehen darf?
Die GBD-Vertreter haben frühzeitig ihr wahres Gesicht gezeigt, etwa der schwedische GBD-Unterstützer Johan Giesecke. Auf die Frage, wie man die Infektionszahlen ohne Lockdown drücken könnte, antwortete er am 17.4.2020:
„Das eine ist Immunität. Das andere, wenn alte und gebrechliche Menschen zuerst sterben und wenn diese Gruppe ausgedünnt ist, wird man weniger Tote bekommen.“
Der Schweizer Medizinhistoriker Flurin Condrau warnte schon 2020 vor Eugenik.
„Wenn eine Gesundheitskrise zu einer Art von „biologischer Zweiklassengesellschaft“ führe, dann komme ihm dafür das Wort Eugenik in den Sinn, „weil auch die Eugenik das Volk unterteilt hat in diejenigen, die dazu gehörten und diejenigen, die nicht dazu gehörten“.
flurin condrau; vATICAN nEWS
Auch Stimmen aus der Schweizer Zivilgesellschaft warnten vor eugenischen Narrativen.
Wo waren die Stimmen aus Österreich? Ich schrieb den Medizinhistoriker Herwig Czech im Februar 2022 und April 2023 an und fragte nach seiner Einschätzung. Er antwortete beide Male, dass er keinen Zusammenhang zur Geschichte der Eugenik in Österreich sehen würde. Das Thema war damit erledigt.
Wo bleibt die Solidarität und Abgrenzung?
Im Dezember 2020 gab es ein Lichtermeer unter dem Motto „Yes we care“ in der Wiener Innenstadt zum Gedenken der Todesopfer durch SARS-CoV2 sowie den Mitarbeitern des Gesundheitswesens. Teile der Regierung unterstützten die Aktion, obwohl sie für die katastrophale Lage in der zweiten Welle mit Triage, hoher Übersterblichkeit und vielen LongCOVID-Betroffenen die Hauptverantwortung trug. Immerhin hatte die Politik generell einen zweiten Lockdown ausgeschlossen, um keine Wähler bei der Wien-Wahl im Herbst zu vergraulen, und der halbherzige zweite Lockdown, der in zwei Etappen kam, verlängerte die dramatische Situation im Gesundheitswesen. Man hätte die Politiker bei dieser Veranstaltung mit nassen Fetzen vom Ring jagen müssen, zumindest aber Tachles mit ihnen reden.
Im Februar 2022 griff Russland überraschend die Ukraine an. Die Regierung profitierte in dieser Zeit hervorragend vom Angriffskrieg und drückte innerhalb von wenigen Wochen weitgehend unbemerkt und wenig kritisiert eine Reihe von Aufweichungen der Covid-Maßnahmen durch. Wir erinnern uns an den „Freedom-Day“ am 5. März 2022, die letzte Amtshandlung des scheidenden Gesundheitsministers Mückstein, mit der in die große BA.2-Welle hinein Schutzmaßnahmen aufhob. Trotz dreimaliger Impfung gab es auch in der Omicron-Ära 2022 ähnlich viele Todesopfer wie 2020 sowie viele LongCOVID-Betroffene, einfach durch die schiere Anzahl von vielen Neuinfektionen, und weil eben ein nennenswerter Teil der Bevölkerung immer noch ungeimpft war oder die Impfung nicht so gut wirkte (v.a. Immunsupprimierte).
Am 19. März 2022 gab es im Ernst-Happel-Stadion (ca. 40 000 Besucher) und am 27. März 2022 am Heldenplatz (ca. 100 000 Besucher) zwei große Benefizkonzerte für die Ukraine, die allerdings zu einer Verlangsamung des Inzidenzrückgangs in Wien geführt haben. Mit anderen Worten: Bei der großteils maskenlosen Veranstaltung haben sich wieder viele Menschen angesteckt, vor allem jüngere Menschen, die dann eben jene Menschen anstecken, die die Infektion nicht locker-flockig überstanden haben. Die Veranstalter waren enttäuscht und sauer darüber, dass man die fehlenden Schutzmaßnahmen kritisierte – ich bin aber nach wie vor am Standpunkt, mehr denn je, dass ein wichtiges Anliegen nicht zulasten der Gesundheit Dritter gehen darf. So wie auch jetzt der Protest gegen Rechts.
Im Dezember 2022 gab es wieder ein Lichtermeer, dieses Mal für das Recht auf Inklusion, doch was ist davon noch übrig? Auffallend ist vor allem das Schweigen der Kirchen, der Caritas, der Behindertenvertreter im Hinblick auf Inklusion und Prävention. Nicht einmal die ehrbare MECFS-Initiative der Bäckerfirma Ströck setzt in ihren Filialen auf Prävention oder zumindest Aufklärung durch Infoplakate, um weiteren Betroffenen vorzubeugen. Das 2020 beklatschte Gesundheitspersonal führte im April 2023 mit Instagram-Videos einen Freudentanz um brennende FFP2-Masken auf. Seit dem Ende der Schutzmaßnahmen im Gesundheitwesen stecken sich mehr denn je vulnerable Personen an, die bisher aus gutem Grund eine Infektion vermeiden wollten und konnten. Ich kenne genügend Berichte aus dem In- und Ausland, welche verheerenden, oft auch tödlichen Folgen es hat, wenn beim Spitalsaufenthalt keinerlei Infektionen mehr vermieden werden, nicht nur SARS-CoV2, sondern auch andere Viren und Bakterien, die in Patientensettings schwerwiegender enden als im Alltag.
Scheinheiligkeit linker Gruppen und Parteien
Österreich-Bezug: Es gibt abseits der Babler-Fraktion innerhalb der SPÖ keine ernstzunehmende Linkspartei in Österreich, die die Machtverhältnisse auf Bundesebene entscheidend verschieben kann.
Wir sind sicherlich nicht mehr in der akuten Anfangsphase der Pandemie, als die Belastung im Gesundheitswesen ausschließlich durch Covid-Patienten zustandekam. Statt aus der Pandemie zu lernen und nach sauberen Händen (Semmelweis), sauberem Trinkwasser (Folge der Cholera-Epidemien) nun für saubere Atemluft zu sorgen, sind die Schutzmaßnahmen gefallen und mit Verweis auf die Eigenverantwortung vom Staat auf das Individuum abgewälzt worden. Die FPÖ hat nur ganz zu Beginn einen strengen Lockdown gefordert und ist dann voll im Thema Freiheit der Gesunden vor den Kranken aufgegangen. Dieses Gedankengut ist aber innerhalb der Zivilgesellschaft schrittweise normalisiert worden – also, so leid es mir für viele Demonstranten tut, aber ihr habt in den letzten Jahren FPÖ (oder AfD)-Narrative übernommen, aber pickt Euch für Euren Protest jetzt nur den offensichtlich an die Zeit des Nationalsozialismus erinnernden Aspekt heraus. Die – von Condrau – „biologische Zweiklassengesellschaft“, in der wir mit einem endemischen/pandemischen SARS-CoV2 dauerhaft leben werden, wird nicht als offensichtliche rechtsextreme Ideologie entlarvt und sich abgegrenzt.
Mehr zur Rolle der Linken in der Pandemiebewältigung:
- Paul Schuberth: Privatisierung des Schutzes, Sozialisierung der Gefahr (23.11.23)
- Erwin Riess: Eine Aussprache in Fischamend oder Vom Untergang der Linken (18.02.22)
Mit anderen Worten: Tragt Masken bei solchen Massenveranstaltungen! Wir haben immer noch viel zirkulierendes SARS-CoV2 und gleichzeitig eine hohe Influenzawelle, und andere Viren oder Bakterien wie Streptokokken oder Mycoplasmen, die man wie ein Zeck im Arsch braucht. Viren werden mit der Zeit nicht harmloser, aber Krankheitsverläufe, wenn die Immunität durch Impfungen zunimmt. Das trifft dummerweise nicht auf jeden zu, und bei so vielen Infektionswellen trifft es eben auf viele nicht zu. Vulnerable werden NICHT mehr geschützt, und sie können sich auch nicht selbst schützen, wenn sie Kinder haben, wenn sie zum Arzt müssen. Es wird immer schwieriger, rechtzeitig an Impfungen zu kommen, und es gibt einen Mangel an antiviralen Medikamenten. Menschen mit Risikofaktoren sind immer noch Menschen, und die meisten sind Teil der Gesellschaft und nicht einer hermetisch abgeriegelten Parallelgesellschaft. „Schutz der Vulnerablen“ war schon immer Bullshit und ist es heute noch. Er existiert schlichtweg nicht.
Daher ist es auch ein Unding, dass Maskenträger diskriminiert, lächerlich gemacht werden, sich darüber lustig gemacht, aber sich auch geärgert wird, wenn sie diese Inklusionsvoraussetzung jetzt bei Massendemos einfordern, um sicher gegen Rechts demonstrieren zu können.
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