Aus aktuellem Anlass wieder einmal ein Update zur Coronalage. Verschiedene Medien titeln zur Zeit, dass wir eine Grippewelle haben – angefangen von den Linzer Verkehrsbetrieben mit eingeschränktem Fahrplan über verschobene Operationen im Landeskrankenhaus Villach bis zu gut gemeinten Hinweisen des Österreichischen Gewerkschaftsbunds. Sie alle behaupten, dass wir uns derzeit in einer Grippewelle befinden. Stimmt das?
Die Grafik zeigt entgegen des Titels NICHT die Zahl der Grippefälle, sondern es werden grippale Infekte und Influenza zusammengefasst. Wir starten diese Saison auf deutlich erhöhtem Niveau im Vergleich zu den letzten Jahren.
Die genaue Aufteilung zeigen die Daten aus dem Sentinelsystem (Quelle: Judith Aberle, Virologie Wien):
Sie zeigen bei einer Probenzahl von n = 170 (Tendenz steigend) für die Kalenderwoche 41 vor allem Rhinoviren (29%) und SARS-CoV2 (26%), in geringer Anzahl auch Enteroviren (2%, „Sommergrippe“), Parainfluenzaviren (1%) und ein RSV-Fall im Burgenland. Influenza wurde in keiner der Proben nachgewiesen!
Die mehrere Wochen alten SARI-Daten zeigen einen geringen Anteil von Influenzafällen (0,3%) an allen stationären Aufnahmen in Österreich. Influenza kann auch reiseassoziiert sein und erkrankte Personen ohne Umweg über den Hausarzt direkt im Spital aufgenommen werden.
In Summe ist festzuhalten, dass derzeit so wenig echte Grippefälle zirkulieren, dass wir NICHT von einer Grippewelle sprechen können!
Der Elefant im Raum ist wieder einmal das unaussprechliche Virus: SARS-CoV2
Wie signifikant ist die aktuelle Coronawelle?
Wenn man von den Abwasserwerten als Indikator für die aktuellen Infektionszahlen ausgeht, bewegen wir uns im oberen Drittel der vergangenen Herbst- und Winterwelle (BA.5 und konvergente Varianten).
Viele Politiker und auch Wissenschaftler argumentieren gerne mit den saisonal bedingten steigenden Infektionszahlen, was typisch für den Beginn der kalten Jahreszeit sein würde.
Allerdings verlief der bisherige Frühherbst völlig untypisch mit zahlreichen Sommertagen und in der Mehrheit über 20 Grad Höchstwert. Die Zahl der trüben und feuchten Tagen hält sich im Großteil von Österreich im Grenzen, vor allem aber im Osten, wo über ein Viertel der Gesamtbevölkerung lebt. Die steigenden Zahlen sind also mitnichten mit der herbstlichen Abkühlung und vermehrtem Aufenthalt in geschlossenen Räumen assoziiert.
Der erste Anstieg ging überwiegend auf Reiserückkehrer und Schulbeginn zurück, der Peak in Salzburg auf das nahe Oktoberfest in München, was dort zu den höchsten Infektionszahlen seit Pandemiebeginn geführt hat:
Seit etlichen Monaten wird die Bevölkerung damit beruhigt, dass wir durch die „breite Immunität“ bestens geschützt sein würden und SARS-CoV2 wie eine Erkältung behandelt werden könnte. Doch stimmt das? Grundsätzlich zeigen die steigenden Zahlen an, dass diese Immunität sich nicht auf Ansteckungen beziehen kann – ein Umstand, der seit Einführung der Impfstoffe viel zu wenig thematisiert wurde: Die Impfung schützt Menschen mit intaktem Immunsystem vor schweren Akutverläufen und Tod, nicht aber vor Ansteckungen und leichten bis mittelgradigen Symptomen.
In den SARI-Daten fällt grundsätzlich auf, dass ältere Menschen ab 70 aufwärts am gefährdesten für einen schweren Verlauf sind. Todesfälle werden offiziell leider nicht mehr gemeldet. Eine weitere betroffene Gruppe ist die der Säuglinge und Kleinkinder (bis 4 Jahre), die häufiger schwere Verläufe aufweist als ältere Kinder oder Jugendliche. Für Kleinkinder handelt es sich wohl meist um die Erstinfektion ohne vorherige Impfung. dabei würden selbst zwei Wildtyp-Impfungen bei den XBB-Varianten die Gefahr eines ambulanten Notfalls bzw. Spitalsaufnahme deutlich verringern (Tartof et al. 09/2023). Die Daten zeigen eines damit ganz klar: SARS-CoV2 ist weiterhin ein gefährliches Virus für all jene mit geschwächtem Immunsystem oder deren Immunsystem noch nie Kontakt mit dem Erreger hatte.
Wie entwickelt sich SARS-CoV2 weiter?
Bisher waren meine Prognosen zu Infektionswellen recht solide, nur bei XBB.1.16 habe ich mich gottlob auf der vorsichtigen Seite geirrt und die angekündigte große Welle ist „dank“ der vorherigen XBB.1.5-Welle ausgeblieben.
Grundsätzlich sind Prognosen zur weiteren Entwicklung auch für Experten schwierig geworden, da jedes Land eine unterschiedliche Historie der Hintergrundimmunität aufweist. Diese setzt sich zusammen aus der Zahl und Höhe der bisher abgelaufenen Wellen, den beteiligten Varianten, der Durchimpfungsrate, dem verwendeten Impfstoff und der Zahl an Infektionen und Reinfektionen. Zudem ist auch das Intervall zwischen den ablaufenden Wellen wichtig, da es anzeigt, inwiefern nachlassender Immunschutz („waning“) eine Rolle spielen kann.
Nach der dritten Welle (ALPHA) sanken die Infektionszahlen längere Zeit ab, während die Impfkampagne anlief. Damals erzeugten die Impfstoffe noch einen nennenswerten Schutz vor Infektion. DELTA war nicht nur ansteckender, sondern entkam der Immunantwort schon besser. Mit den OMICRON-Varianten kam ein neuer Serotyp und bei gleichzeitigem Abbau (!) von Schutzmaßnahmen die höchste Welle. Die BA.1/BA.2-Welle erzeugte Kreuzimmunität und einen starken Abfall im Sommer 2022, doch BA.5 war wieder etwas immunflüchtiger und es folgten zwei weitere Wellen. Im Hochwinter konnte sich keine Variante durchsetzen, in geringerem Ausmaß mag die Influenzawelle hier eine Rolle gespielt haben (Interferenz), allerdings gab es bis zu 5% Ko-Infektionen mit Covid19, also dürfte die Kreuzimmunität durch die abgelaufene BA.5-Welle eine größere Rolle gespielt haben. Die Rekombinanten (XBB*) brachten dann erneut mehr Immun Escape, dafür sorgte die Kreuzimmunität dann für einen ruhigen Sommer 2023, ehe mit EG.5 ein neuer Player das Feld betrat. Sie ist durch die zusätzliche Spike-Mutation F456L von XBB.1.5 unterscheidbar, EG.5.1 durch die zusätzliche Spike-Mutation S:Q52H. Das globale Wachstum ist insgesamt jedoch begrenzt verglichen mit früheren Varianten, weil es kaum infektiöser und nur wenig immunflüchtiger ist als andere Varianten.
Droht eine Herbstwelle durch JN.1?
Die Mitte August erstmals sequenzierte BA.2.86-Variante hat nichts mehr mit OMICRON zu tun, sondern ist weiter weg von BA.2 als BA.2 vom Wildtyp. Sie besitzt im Vergleich zu EG.5.1 rund 24 neue Spike-Mutationen. Auffallend ist zudem die hohe ACE2-Affinität. Basierend auf der deutlich gesunkenen Anzahl an Sequenzierdaten weltweit konnten bisher nicht mehr schwere Verläufe festgestellt werden als bei früheren Varianten.
Die Tochtervariante JN.1 enthält allerdings die Escape-Mutation L455S und verringert die Wirksamkeit der Antikörper um die Hälfte, verglichen mit BA.2.86 und den sogenannten FLip-Varianten, die das effiziente Mutationspaar L455F und F456L enthalten. Von EG.5.1 unterscheidet sich JN.1 durch 42 Aminosäure-Mutationen.
Nach den bisherigen Daten scheint JN.1 alle bisherigen Varianten zu verdrängen und könnte in der ersten Novemberhälfte eine neue Infektionswelle antreiben.
Nachdem es sonst keine Maßnahmen mehr gibt, wird uns auch die Auffrischimpfung kaum weiterhelfen. Die Zahl der verimpften Dosen ist viel zu klein, um den Schwung aus der aktuellen EG.5*-Welle und einer etwaigen JN.1-Welle zu nehmen. Von den 0-11 jährigen haben nicht einmal 3% drei Impfdosen erhalten. Kinder und Jugendliche beeinflussen aber durch die Übertragungen in Bildungseinrichtungen die Höhe der Infektionswelle.
Wie wirksam angesichts der vielen Mutationen und des vorhandenen Mutationsspielraums von JN.1 die auf XBB.1.5 angepasste Impfung sein wird, ist allerdings fraglich. Anekdotisch bietet sie gegen die derzeit kursierenden Varianten (wo es leider nur veraltete Daten in Österreich gibt) kaum Schutz vor Ansteckung – dieser würde allerdings ohnehin nur wenige Wochen anhalten. Der Schutz vor LongCOVID ist wie immer unbekannt, allerdings reduziert die Impfung das LongCOVID-Risiko deutlich, außer man hat sich zwischenzeitlich infiziert (Marra et al. 10/2023). Weiterhin gut schützen dürfte die Boosterimpfung gegen schwere Verläufe. Im Zweifel ist eine Impfung besser als keine Impfung und in jedem Fall besser als eine Infektion.
Krammer und Ellebedy (2023) argumentieren daher u.a. gegen das jährliche „Influenzamodell“ und urgieren bessere Impfstoffe, auch nasale Impfstoffe, um den fortlaufenden Mutationen vorzukommen und Infektionswellen effektiv zu bekämpfen.
Warum erhält BA.2.86 nicht die Bezeichnung Pi?
BA.2.86 ist so grundverschieden von den bisherigen Varianten, dass es nach Meinung zahlreicher Experten die offizielle WHO-Bezeichnung Pi erhalten sollte. Informell wird die Variante daher Pirola genannt.
Die WHO vergibt jedoch seit Oktober 2022 nurmehr „Variant of Concerns“ neue Bezeichnungen. Voraussetzung dafür sind …
- mehr schwere Verläufe
- deutliche Abnahme der Impfwirksamkeit gegen schwere Verläufe
- Überlastung der Gesundheitssysteme durch steigende Fallzahlen
Es herrscht allgemein Konsens darüber, dass wir nicht mehr die prekäre Situation von 2020 haben, als eine immun-naive, vulnerable Bevölkerung ohne wirksame Medikamente und Impfstoffe auf den Schutz durch die Mehrheitsgesellschaft angewiesen war. Schwere Verläufe kommen in Absolutzahlen betrachtet seltener vor, weil ein gewisser Immunschutz gegen schwere Verläufe durch Impfung und – falls folgenlos überstanden – durch Infektion besteht. Der Staat will Kosten und schlechte Publicity für die Wählerzustimmung ersparen und auf den Stand vor der Pandemie zurück, was die Gesundheitsversorgung betrifft. Ein schwerwiegender Trugschluss, dies tatsächlich zu erreichen, denn das Gesundheitssystem ist nicht mehr so leistungsfähig wie vor der Pandemie!
Die Kriterien für eine VOC sind schwer einzuschätzen, nachdem weltweit die Überwachungstools, vor allem Sequenzierdaten, aber auch Testsysteme und Todesstatistiken abgenommen haben. Selbst wenn man jetzt zum Schluss kommt, dass JN.1 eine VOC ist, herrscht ein starker politischer Druck auf die WHO, keine neue Bezeichnung zu vergeben.
In zahlreichen Ländern, darunter Österreich, Deutschland, UK, haben Regierungen ihr gesamtes Lügen- und Desinformationskonstrukt darauf aufgebaut, dass wir für ewig mit Omicron-Sublinien zu tun haben werden (vgl. Variantenmanagementplan), fälschlicherweise als „mild“, „wie eine Grippe“, „wie eine Erkältungskrankheit“ bezeichnet. Ewig steht hier für Legislaturperiode.
Eine Pi-Variante würde die Wiedereinführung von unpopulären Maßnahmen verlangen, weil damit ein erhöhtes Risiko für die Öffentliche Gesundheit durch mehr Krankenstände, mehr Spitalsaufnahmen und LongCOVID einhergeht. LongCOVID selbst führt zu beträchtlicher Inanspruchnahme des Gesundheitssystems (Mu et al. 2023, preprint).
Die VOC-Definition berücksichtigt jedoch nicht, dass zu den Covid-Fallzahlen auch andere signifikante Erkrankungswellen kommen, wie durch RSV, Influenza und Streptokokken. Das derzeitige Gesundheitssystem ist in vielen Ländern nach Ende des Internationalen Gesundheitsnotstands in viel schlechterem Zustand als vor der Pandemie. Es ist selbst gegen kleinere Coronawellen personell viel anfälliger für Engpässe und Kollateralschäden. Die Schutzmaßnahmen in den ersten Pandemiejahren haben andere Infektionskrankheiten im Ausmaß erheblich verringert, speziell im Krankenhaus gab es weniger Ansteckungen mit Viren, katheterbedingte Harnwegsinfekte und Venenkatheter-Infektionen. (Wilson et al. 2023).
Die Wahrscheinlichkeit eines Zusammenbruchs des Gesundheitssystems hängt seit Ende der Schutzmaßnahmen nicht nur davon ab, wie viele schwerkranke Covid-Patienten behandelt werden müssen, sondern wie viele Gesundheitsmitarbeiter noch gesund sind, um alle Patienten zu behandeln. Das sollten wir aus der ersten Omicron-Welle gelernt haben, als das Personal reihenweise krank wurde. Daten aus mehreren Ländern (siehe Punkt „Welche Berufsgruppen sind besonders gefährdet?“) zeigen, dass Spitalspersonal neben Erziehern das höchste Infektions-, aber auch LongCOVID-Risiko hat. Alleine in Kanada haben 10% der Gesundheitsarbeitskräfte Langzeifolgen durch Covid19.
Mit dem offiziellen Ende von Omicron wären Regierungen gezwungen, einzugestehen, dass die Pandemie nicht vorbei ist wie lange Zeit behauptet und dass man erneut Maßnahmen einführen müsste, was ohne entsprechende Aufklärung und Schuldeingeständnisse noch mehr Wähler zu den Rechten treiben würde.
Public Health ist nicht nur Covid, wie Molekularbiologe Ulrich Elling kürzlich auf Bluesky anmerkte, und die Absolutzahl an Covid-Patienten im Spital als einziger Indikator für Überlastungssymptome ist ein Fehler. Oder zynisch gesagt: Sollen wir wieder vermehrt an Influenza sterben wie vor der Pandemie, weil das eben unsere gelebte Normalität war, oder lernt man aus der Pandemie und versucht wenigstens, auch diese Todesfälle zu verringern, indem man ein Spital eben nicht ständig an der Kapazitätsgrenze des vorhandenen Personals an der kurzen Leine hält? Das geht aber nur durch Maskenpflicht im Gesundheitswesen und saubere Luft im Bildungswesen, denn die Mehrheit der Spitalsmitarbeiter hat nun einmal Kinder.
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