Vorwort:
Viel hab ich die letzten Jahre über die Folgen von SARS-CoV2-Infektionen geschrieben, ohne Ahnung von Immunologie zu haben. Ich möchte mit dieser Seite versuchen, ein paar Wissenslücken zu füllen – auch wenn die Erkenntnisse nicht immer angenehm sein mögen. Im Vordergrund stehen für mich aber wissenschaftliche Fakten und nicht selektives Wunschdenken.
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Behauptung: Reinfektionen würden das Risiko für Long Covid erhöhen.
Wahr ist:
Reinfektionen schützen gegen schwere (akute) Verlaufsformen, Während mit der Zeit der Schutz vor asymptomatischen und symptomatischen Reinfektionen abnimmt, bleibt der Schutz vor schweren Verläufen erhalten (Sukik et al. 2025). Long Covid kann zwar auch nach leichten Verläufen auftreten, das Risiko nimmt aber mit der Schwere des akuten Verlaufs zu (Greenhalgh et al. 2024). Da die Anzahl der schweren Verläufe aber klar abnimmt, wird auch das Risiko für Long Covid abnehmen. Das gilt nicht für Personen mit chronischer Immunschwäche bzw. Immundefekten. Anekdotisch können virale Infekte jeder Art vorbestehendes Long Covid zudem verschlechtern. Bei Millionen Betroffenen weltweit bedeutet das eine signifikante neue Risikogruppe, die sich vor weiteren Infekten schützen sollte.
Behauptung: Die Sterblichkeit durch SARS-CoV2 bleibt hoch oder nimmt weiter zu.

Wahr ist: Die Mortalitätsrate geht seit Jahren kontinuierlich zurück – dank Impfungen und steigende Bevölkerungsimmunität. Covid19 bleibt aber das tödlichste endemische Virus aufgrund der ganzjährigen Zirkulation (Gesamtzahl an Infektionen höher als bei Influenza).
Behauptung: Wir würden Infektionen brauchen, um das Immunsystem zu trainieren (Hygiene-Hypothese).
Wahr ist: Wir brauchen keine Infektionen, um ein Immunsystem aufzubauen. Wir werden damit geboren. Jedoch brauchen wir Infektionen für pathogenspezifische Immunität (außer: Es gibt Impfstoffe, auf Basis derer eine Infektion größtenteils mild/unbemerkt verläuft).
Behauptung: Wenn wir alle Infektionen vermeiden, bleiben alle auf Dauer gesund.
Wahr ist – und das ist eine schmerzhafte Lektion: Regelmäßige Infektionen, symptomatisch und asymptomatisch, erneuern die spezifische Immunität gegen die jeweiligen Erreger. Selbst wenn es größere Infektionspausen gibt (z.B. durch eine Pandemie und Schutzmaßnahmen dagegen), sorgen B- und T-Zellen-Immunität weiterhin für Schutz gegen schwere Verläufe. Wenn wir also respiratorische Infektionen durch „saubere Luft“ in Schulen, im Gesundheitswesen und am Arbeitsplatz verringern könnten, erkranken wir dann seltener schwer? Teil des Problems ist, dass die besagte B/T-Zellen-Immunität nicht auf jeden zutrifft. Wenn wir die pathogen-spezifische Immunität abschaffen, weil wir uns nicht mehr regelmäßig infizieren, verändert sich das Pathogen mit der Zeit und kann virulenter werden. Als Folge entstehen mehr Epidemien und häufiger schwere Verläufe. Wenn jeder teilnehmen würde, könnte das Risiko für häufige Epidemien sinken – doch man könnte plötzliche pandemische Ausbrüche bekommen, die dann vor allem jene bedrohen, die mit dem Pathogen noch nie in Kontakt kamen. Das spricht alles grundsätzlich nicht gegen saubere Luft, wodurch Übertragungen reduziert werden – doch es wird Infektionen nie völlig verhindern, falls das die Erwartungshaltung ist, und ebenso wenig wird es jene auf Dauer vor potentiell folgreichen Infektionen schützen, die man mit sauberer Luft erreichen wollte. Der Ansatz ist deswegen nicht schlecht, das Anliegen unterstütze ich weiterhin, nur sollte man sich über unbeabsichtigte Folgen bewusst sein. Als Beispiel dafür dient die Entwicklung der Polioviren-Zirkulation (hier habe ich das ausgeführt).
Man braucht also keine regelmäßigen Erkrankungen – es reichen „Kontakte“ („stille Feiung“) mit dem Erreger aus, speziell, wenn diese schnell mutieren.
Behauptung: Der Begriff Immune Debt würde erst seit der Pandemie existieren. Es gäbe kein Infektionskonto, in das man einzahlen müsse. Wenn man sich seltener infiziert, ist man am Ende des Jahres einfach weniger krank (sinngemäßes Zitat der Virologin Isabella Eckerle).
Wahr ist: Der Begriff Immunschuld ist nicht glücklich gewählt (siehe Luwen Zhang 2024) – das trifft aber auf viele Begriffe zu, die man nicht direkt in andere Fachbereiche übersetzen kann. Das gilt auch für Immunität – für Immunologen bedeutet er „vorhandenes Immungedächtnis aufgrund vorheriger Kontakte mit dem Erreger„. Ähnlich bedeutet „T cell exhaustion“ nicht Fatigue, aber eine negative Rückkopplung, um krankhafte Immunprozesse zu reduzieren. Immunschuld erinnert an eine finanzielle Transaktion, während „Immune Shortage“ andeutet, dass etwas nicht verfügbar ist. „Immunitätslücken“ bleibt daher der bevorzugte Begriff für Veldhoen. Die erste Begegnung mit einem Pathogen baut pathogen-spezifische Immunität auf, die durch erneute Kontakte für Jahrzehnte gefestigt wird. Drei Aspekte hierbei:
Infektion ist nicht Erkrankung. Infektionen passieren aufgrund …
- Neutralisierende Antikörper verschwinden. Das ist nicht „Immunität“ in der Gesamtheit, sondern ein Teil davon. Es ist eine Verknappung, weil B-Zellen vorhanden bleiben, die diese Antikörper herstellen. Doch verringert sich ihre Produktion mit der Zeit, um Platz zu schaffen.
- Das Pathogen ist unter Druck zu infizieren, sein Überleben hängt davon ab. Es wird teilweise mutieren, um die Bindung neutralisierender Antikörper zu verringern. Das ist abermals nicht alles „Immunität“, sondern funktioniert auf individueller und Bevölkerungsebene, sodass charakteristische Infektionswellen entstehen.
- Neue immun-naive Personen werden der Bevölkerung hinzugefügt, auch bekannt als Säuglinge und Kinder. Sie besitzen keine pathogen-spezifische Immunität. Sie haben aber ein Immunsystem, das sich unabhängig von Erregerkontakten entwickelt hat.
Je länger eine Bevölkerung oder ein Immunsystem nicht wiederkehrend zirkulierenden Pathogenen ausgesetzt ist, desto mehr 1) Antikörper schwinden 2) desto eher kann sich ein Pathogen in anderen Populationen verändern und 3) desto mehr immun-naive Personen werden der Bevölkerung hinzugefügt.
Das Ergebnis? Sobald das Pathogen wieder zirkuliert, treten mehr Infektionen und mehr symptomatische bzw. schwere Verläufe auf. Warum?
- Antikörpertiter sind niedriger, sodass mehr Infektionen geschehen (z.B. Influenza), sodass das Erkrankungsrisiko steigt.
- In manchen Fällen sind neue Varianten entstanden (z.B. Gruppe A-Streptokokken, kurz GAS), die das Erkrankungsrisiko erhöhen.
- Mehr immun-naive Kinder, deren pathogen-spezifische Immunität noch nicht ausgereift ist (z.B. RSV), was zu mehr Infektionen und Erkrankungen führt.
Der Virologe Ian M. Mackay erläutert in seinem Blogbeitrag die Hintergründe für „Immune Debt“ und dass Cohen und Levy, die diesen Begriff prägten, andeuten wollten, dass die Zahl der gegenüber Pathogenen empfänglichen Personen durch die Schutzmaßnahmen während der Pandemie zunehmen würde. Infektiologe Steve Valeika ergänzt, dass die Leute durch dieses Konzept so getriggert würden, doch sei es bloß Mathematik und das Phänomen bei Infektionsmodellierern lange vor Cohen’s Immunschuld bekannt – man hatte bloß keinen knackigen Namen dafür. Veterinärärzte bezeichnen mit Immunitätslücke die Zeit zwischen passiver Immunität und selbst-erworbener Immunität. Ähnliches Prinzip und alt.
Mehrere Autoren haben davor gewarnt, dass durch die Zeit der Kontaktbeschränkungen Immunitätslücken enstehen (Hollingsworth et al. 2020, Baker et al., 2020; Oh et al. 2022).
Und wie lange würde dieser Zustand anhalten?

Wann wir wieder Normalzustand haben werden, wird man erst hinterher sagen können.
Ian M. Mackay hat statt Immunitätslücke oder Immunschuld den Begriff Infektionspause vorgeschlagen und das in seinem Blogeintrag erläutert.
Behauptung: Die starke Zunahme an Mycoplasmen-Lungenentzündungen wurde durch Covid-Infektionen verursacht.

Wahr ist: Im Jahr 2024 kam es weltweit zu starken Anstiegen von Lungenentzündungen durch dieses Bakterium, das gewöhnlich opportunistischen Ursprungs ist, also ein durch ein Virus geschwächtes Immunsystem ausnutzt. Besonders betroffen sind immungeschwächte Personen, deren CD4-T-Zellen stark abgenommen haben (Shankar et al. 2005). Dazu sind u.a. HIV und SARS-CoV2 in der Lage. Allerdings zeigen Untersuchungen aus der Pandemiezeit und danach, dass die Krankheitsschwere gleichgeblieben ist (Li et al. 2024). Mycoplasmen zirkulieren alle ein bis drei Jahre in Epidemien um die Welt Beeton et al. 2020), zuletzt im Winter 2019/2020 kurz vor dem ersten Lockdown (Sauteur et al. 2022). Die Rückkehr der Mycoplasmen wurde durch die Maßnahmen verzögert (Sauteur et al. 2024). Der obige Graph zeigt auch in Ländern mit starken Maßnahmen wie Neuseeland, Australien, Japan oder China deutliche Ansteige, obwohl es dort kaum Viruszirkulation gegeben hat. Der Anstieg ist zudem synchron mit Ländern, wo es kaum oder keine Maßnahmen gegeben hat (z.B. Schweden oder England) – das deutet mehr auf eine andere Ursache als vorherige Covid-Infektionen hin.
Behauptung: SARS-CoV2 würde allgemein die Infektanfälligkeit erhöhen, deswegen hätte es starke Infektionswellen nach Aufhebung der Maßnahmen gegeben.
Wahr ist: In der Pandemie wurde ein Rückgang spezifischer Antikörper gegenüber Viren und Bakterien tatsächlich beobachtet (Lorenz et al. 2024), wobei es widersprüchliche Ergebnisse bei Erwachsenen (Piliper et al. 2024) und Kleinkindern gibt (Walker et al. 2022).
Die Infektionspause ist auch bei Kindern messbar und zeigt, dass die Maßnahmen gegen Infektionen funktioniert haben. (Nguyen-Tran et al. 2025). Der Zeitraum der Maßnahmen war relativ kurz und weltweit gegeben, dadurch hatten die Pathogene wenig Gelegenheit zu mutieren. Anders wäre es, wenn nur ein kleiner Teil sich isoliert, während die Infektionserreger weiter mutieren – dann würden schwere Verläufe häufiger werden, etwa, als im Jahr 1846 auf den Faroer Inseln eine schwere Masernepidemie mit 170 Toten auftrat (siehe Weekly Epidemiological Report, Sri Lanka 2024, Klass and Ratner 2022).
Bei Kleinkindern haben SARS-CoV2-Infektionen das Risiko für RSV und anderen Infektionen nicht erhöht – es ist jedoch nach Influenza-Infektionen weiterhin höher (Allen et al. 2025 – Kontrollgruppe vermutlich ähnlich häufig mit Covid infiziert und noch dazu mit Grippe).