Diese Kritik richtet sich jetzt ausdrücklich (auch) an „Team Vorsicht“, das keine homogene Gruppe ist, sondern aus Menschen besteht, die aus den unterschiedlichsten Gründen eine (weitere) Infektion vermeiden wollen. Sie haben einen sehr heterogenen Wissensstand, vom Laien bis zur praktizierenden Ärztin oder Forscher. Ich zähle mich da selbst hinzu. Mein Anspruch ist bis heute, wissenschaftlich korrekt zu argumentieren und sich so von „Team Wissenschaftsleugnung“ abzugrenzen, die von wissenschaftlichen Methoden keine Ahnung haben und vor allem nachplappern, was in ihrer Blase gerade en vogue ist. Das kann und sollte auch dazu führen, nicht nur die Überschrift eines Artikels zu lesen, der einem in die eigene Agenda passt, sondern bis zum Schluss zu lesen und sich zu überlegen, ob ein uninformierter Laie den Text so interpretieren wird wie man selbst – oder verwirrt bis desinformiert zurückgelassen wird.
Wir warnen vor Reinfektionen mit SARS-CoV2, aber auch vor Erstinfektionen bei Säuglingen und Kleinkindern, weil das Virus weiterhin gefährlicher als eine Influenzagrippe ist und die Langzeitfolgen vielschichtig und leider vielfach noch unheilbar sind. Der genaue Prozentsatz der Langzeitfolgen-Betroffenen ist Gegenstand intensiver Forschung und hängt von der Definition von LongCovid, aber auch Studienmethodik, Confoundern, etc ab, ist jedenfalls nicht trivial zu bestimmen. Ebenso gibt es längst Konsens, dass SARS-CoV2 das Immunsystem schwächt – unklar ist aber die Dauer und allgemeine Häufigkeit. Ich maße mir als Nichtimmunologe nicht an, die Methodik der Studien und ihre Interpretation zu bewerten – das ist hochkomplex.
Wiener Zeitung: Warum man nach Corona leichter krank wird (13. Oktober 2024)
Schädigt Sars-CoV-2 das Immunsystem? Die Antwort ist ja, eine Infektion mit dem Coronavirus kann das Immunsystem beeinflussen. Aber die Impfung hilft.
Das geht aus dem Artikel nicht hervor, dass und ob die Impfung hilft. Sie verhindert vielfach die Beteiligung der Lunge und schwere Verläufe mit Hospitalisierung, wie weiter unten im Text ausgeführt wurde.
Corona-Infizierte können jedoch auch nach mehrfacher Impfung immer noch ordentlich krank sein („milder Verlauf“) und eine Zeit lang anfälliger für Infekte. Das kann nur eine Follow-Up-Studie zur genannten Studie klären.
Allein in der ersten Oktoberwoche waren bei der Österreichischen Gesundheitskasse 287.244 Personen krankgemeldet, davon 87.584 mit grippalen Infekten, 408 mit Influenza und 13.618 mit Covid-19.
Da ist wichtig zu erwähnen, dass es keine Meldepflicht mehr gibt und Corona deutlich untererfasst ist, weil die Tests nicht mehr gratis sein. Von den grippalen Infekten dürften also einige mehr Corona sein.
Und wer sich nach Covid-19 mit einer schweren Krankheit, wie Pneumokokken oder den Masern, ansteckt, könne sogar über Monate mit einer Immunschwäche zu kämpfen haben, da die Antikörper, konkret die B-Zellen, herabgesetzt blieben.
Masern führen per se bereits zu einer Schwächung des Immunsystems (Depletion der Gedächtnis B-Zellen) – das hat aber nichts mit einer vorherigen Corona-Infektion zu tun. Was ist die Quelle für die Aussage, dass es nach einer Infektion eine weitere Viruserkrankung braucht, ehe das Immunsystem über Monate hinweg geschwächt ist?
Durch Infektion und Impfung bauen gesunde Menschen einen immer schlagkräftigeren Immunschutz auf.
Es ist nicht das Ziel, sich durch Hybrid-Immunität einen guten Immunschutz aufzubauen, weil man Virusinfektionen grundsätzlich meiden sollten (siehe Lancet Editorial 2022).
Daher gibt es auch die jährliche Auffrischimpfung etwa bei Influenza. Nicht mit dem Ziel, sich danach zu anstecken, sondern im Fall einer Ansteckung besser geschützt zu sein. Daher ist es schade, dass im Artikel Prävention nicht erwähnt wird. Denn der Impfschutz wirkt umso besser, je geringer die Viruslast bei Ansteckung ist – „leaky immunity“ (siehe Lind et al. 2023).
Die derzeit kursierenden Corona-Varianten, die unter dem Namen FLiRT zusammengefasst werden, gehen mit Halsschmerzen, Kopfschmerzen, Fieber oder Schüttelfrost, Husten und Schnupfen, aber auch Bauchgrummeln oder Sodbrennen einher.
Diese Varianten zirkulieren schon länger nicht mehr. Aktuell dominiert die Virusvariante KP.3, die die Mutation R456T nicht mehr enthält, sowie mit wachsendem Anteil die Rekombinante XEC (KS.1.1+KP.3.3). Die akute Symptomatik ist übrigens variantenunabhängig gleichgeblieben.
Fazit: Dieser Artikel wurde zahlreich und unkritisch geteilt, obwohl das mit Masern hier falsch ist und die Hybrid-Immunität hier wohlwollend erwähnt wird. Leider haben die AutorInnen auf mein Feedback nicht reagiert, daher steht es jetzt hier im Blogtext.
N-TV: Warum man nach Corona anfällig für andere Infektionen ist (24.10.24)
Der NTV-Artikel bedient sich zu Beginn der Aussagen des Wiener-Zeitung-Artikels, inklusive der Falschaussage zu den Masern. Später wird zutreffend gesagt, dass „Immunsystem trainieren“ eine unbewiesene Hypothese sei.
„Das Immunsystem ist nicht so wie ein Muskel, der, wenn man ihn lange Zeit nicht braucht, dann irgendwie weniger gut funktionieren würde.“ wird Carsten Watzl zitiert. Der sich danach aber unglücklich ausdrückt, denn …
„Es ist so, dass wir bei einigen Infekten oder einigen Erregern unsere Immunität regelmäßig auffrischen müssen, und danach wieder ein paar Jahre geschützt sind,“
Was bedeutet das anderes als Infektionen zu „brauchen“, um gegen Infektionen geschützt zu sein? Wir können diese Infektionen auch einfach auslassen, denn es gibt nur wenige Erreger, die langlebige Immunität erzeugen – und meistens gibt es eine Impfung dagegen, die vorzuziehen ist (z.B. Masern oder Keuchhusten). Wie Isabella Eckerle einmal treffend formulierte (sinngemäß): Es gibt kein Immunschuldkonto, in das wir Infektionen einzahlen müssen. Am Ende des Jahres sind wir einfach weniger krank.
Schon gar nicht würde Covid-19 das Immunsystem wie HIV zerstören, sagte die Wiener Molekularbiologin Sylvia Kerschbaum-Gruber der österreichischen Zeitung „Der Standard„. Wäre dies der Fall, gäbe es keine Hybridimmunität aus Impfung und Infektion, die am besten vor einem schweren Verlauf schütze.
Hybrid-Immunität schützt vielleicht am besten vor einem schweren Verlauf, aber nicht von Long Covid, da Reinfektionen langfristig problematisch sind. Das Interview im STANDARD wurde im Februar 2023 geführt, da hatten viele Menschen erst eine oder zwei Durchbruchsinfektionen hinter sich. Der dort zitierte Review (Bobrovitz et al. 2023) betrachtet nur den Schutz vor Infektion und schwere Verläufe, nicht vor Long Covid. Die Studien zu Reinfektionen sind erst die letzten Jahre umfangreicher geworden.
Im STANDARD sagte sie übrigens auch:
Sie persönlich geht davon aus, dass das Immunsystem monatelang mit den Folgen beschäftigt ist, wenn die Infektion so schwer war, dass man sie zumindest bemerkt hat. „Es muss ja sozusagen auch die Aufräumarbeiten erledigen. Wir wissen ja, dass Covid verschiedene Organe infizieren kann. Die nachfolgenden Reparaturarbeiten werden auch von verschiedenen Immunzelltypen reguliert.“
Weiter unten differenziert sie aber klar zwischen „normaler Immunreaktion“ und Zerstörung des Immunsystems wie bei HIV, sodass man auch an normalen Infekten sterben kann – etwas, was bei SARS-CoV2 nicht beobachtet wird. Ebenso geht sie dort auf Long Covid ein und dass hier das Immunsystem länger anfällig sein kann.
Im NTV-Artikel wird zuletzt Emanuel Wyler zitiert mit …
„Auf einer Skala, auf der ein Rhinovirus kaum bis keinen Schaden am Immunsystem anrichtet und HIV es komplett zerstört, würde ich SARS-CoV-2 – jetzt, da die meisten Menschen gegen das Virus geimpft, davon genesen oder beides sind – irgendwo in der Mitte verorten.“
Auch dieses Interview wurde im Februar 2023 geführt. Zwar ist ein Teil geimpft, aber das schon ist schon länger her, die Impfraten sind zum Weinen niedrig. Kinder sind großteils ungeimpft, aber schon etliche Male reinfiziert worden. Seine heutige Einschätzung wäre daher interessanter und aktueller.
Fazit: In beiden Artikeln ging es um eine Langzeitfolge von Covid, die sich auf die Infektanfälligkeit bezog. Wenn nun aber von der effektiven Hybrid-Immunität die Rede ist, darf man nicht vergessen, dass hier die Folge von Reinfektionen und LongCovid nicht eingepreist wurden.
Daher sollte man Infektionen generell eher vermeiden. Insbesondere weiß man mit endemischem SARS-CoV2, das ganzjährig zirkuliert, schlicht nicht, ob man das harmlose oder das gefährliche Virus erwischt hat. Früher beschränkte sich das Risiko potentiell schwerwiegender Virusinfektionen auf wenige Monate im Winter (RSV, Influenza), während gewöhnliche Erkältungsviren (Rhinoviren, humane Coronaviren, Parainfluenza) meist besser weggesteckt werden – außer im Kindesalter, wo es später im Erwachsenenalter chronisch-obstruktive Atemwegserkrankungen auslösen kann, aber auch da sind die Erkenntnisse erst die letzten 10-20 Jahre da.
Schließlich wird manchmal so getan, als sei die LongCovid-Gruppe eine vernachlässigbare Minderheit und die Mehrzahl der Bevölkerung gesund, aber 10-20% LongCovid-Anteil betrifft hunderte Millionen Menschen weltweit und durch Reinfektionen wächst ihre Zahl stetig weiter an. Sie sind mitten in der Gesellschaft unter uns und verdienen Schutz und Teilhabe zugleich.