Der eigentliche Witz daran ist, dass das bei „Journalisten“ unüberprüft durchgehen darf. Offenbar haben der Bürgermeister, seine Berater und der zammschreibende Journalist in den letzten vier Jahren unter einem Stein gelebt und nicht mitbekommen, dass SARS-CoV2 gar nicht saisonal ist. Oder sie haben ihre eigenen Narrative geglaubt, die immer vom Herbst sprachen, und der Impfung im Herbst, wie bei Influenza, weil nur in der kalten Jahreszeit Infektionen auftreten würden. Vielleicht haben sie auch das Ö1-Journal am 14. August gehört, wo es u.a. hieß, dass Grippe auf dem Vormarsch sei. Dabei gab es kaum Grippefälle und SARS-CoV2 dominierte in den Sentineldaten.
In jedem Fall kann man es nur mit Inkompetenz erklären. Zwar ist sein Vorhaben löblich, dass die Stadt Wien die Impfung wieder selbst in die Hand nehmen will – nur kommt das für zehntausende Menschen seit Ende Juli bereits zu spät, und die Schule ist bereits gestartet, ohne, dass man irgendetwas für die Kinder tun will. Die Sorge wegen der Hitze scheint größer als die Zusammenhänge von schlechter Luft mit erhöhter Infektionsanfälligkeit und erschwertem Konzentrationsvermögen.
Sicherlich ist ein roter Bürgermeister besser als ein Schwarzer oder Blauer, aber in Sachen Pandemiepolitik hat sich die Stadtregierung mit der verfrühten Aufhebung der Maskenpflicht im Februar 2023 entlarvt mit ihrem Projekt „Intensivstationen schützen„. Um solidarischen Schutz für den/die Nächsten ist es nie gegangen, und entsprechend schnell verschwunden sind sämtliche Masken damals in den Öffis von einem Tag auf den anderen, als die Maskenpflicht aufgehoben wurde.
Die seit dem Frühling laufende Infektionswelle wird jedenfalls von den FLiRT-, dann FLuQE– (Kaku et al. 2024, Feng et al. 2024 preprint) und gegenwärtig S31del-Varianten (Li et al. 2024 preprint) getrieben. Insbesondere mit letzteren gab es einen kräftigen Schub, und wie wir wissen, herrschte die letzten Wochen beständig Sommer, vor allem in Wien. Das trocken-heiße Wetter geht erst in der Nacht auf Montag zu Ende.
„Coronawelle rollt an, sobald es kälter wird.“
Salzburger Nachrichten, 05.09.2024
„Die Virologin Redlberger-Fritz geht davon aus, dass in diesem Jahr relativ früh mit einer Erkrankungswelle zu rechnen sei – auch wenn es derzeit noch keine gebe. „Wir sehen seit August eine leicht steigende Tendenz durch Reiserückkehrer. Das zeigt sich auch in den Abwasseranalysen.“
Dieser Journalistin empfehle ich einen Augenarzt, denn die Coronawelle ist schon lange da. Redlberger-Fritz darf gleich mitgehen, und für „leicht steigend“ sollte man die Brille vielleicht zwei Mal putzen.
Im gleichen Artikel rät die AGES zum bei SARS-CoV2 und Erkältungskrankheiten sinnlosem Händewaschen und Desinfizieren, so, als ob wir im März 2020 stünden und die letzten vier Jahre hinter dem Mond gelebt hätten. Vielleicht hat die AGES dort ja ihren Hauptstandort, weil anders kann man so viel Ignoranz von neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht erklären. Statt zu Masken raten sie außerdem zur Husten- und Niesetiquette, dabei hat diese sich schon seit über 10 Jahren als unzureichend herausgestellt (Zayas et al. 2013).
Longcovid findet sich mit keinem Wort erwähnt, weder von Redlberger-Fritz noch von der Redakteurin.
„Fachleute raten Risikopersonen, sich bei Erkältungssymptomen testen zu lassen, damit sie rasch zielgerichtete Behandlungen erhalten.“
Dabei wird allerdings verschwiegen, dass es weiterhin keine Kostenübernahme von Schnelltests beim Hausarzt gibt – seit April sind sie kostenpflichtig. Ein Schnelltest alleine reicht aber oft nicht, dafür sind sie zu ungenau – sie springen manchmal erst am vierten oder fünften Tag an. Besser wären PCR-Tests oder PlusLife-Testgeräte in jeder Praxis. Überhaupt sollte man auf viel mehr testen, weil ein bellender Husten kann derzeit genauso gut Keuchhusten sein und bald kommen RSV und Influenza wieder hinzu. Es kann aber genaus das vergleichsweise harmlose Rhinovirus sein oder ein saisonales Coronavirus.
Das Gesundheitsministerium empfiehlt ein Jahr Abstand zur letzten Infektion oder Impfung, das geht sich mit zwei Infektionswellen im Jahr und anhaltend hoher Viruszirkulation dazwischen aber kaum aus. Für Kinder wird überhaupt nichts empfohlen, dabei wird sie mittlerweile selbst in Schweden wegen des starken Anstiegs von Diabetesfällen bei Kindern empfohlen.
Kinder sind überhaupt die großen Verlierer der Pandemie. Der Großteil wurde ungeimpft mehrfach infiziert. Kinder mit Longcovid seien teilweise kränker als Krebspatienten, schreibt diese Jugendärztin hier. Kinder mit Langzeitfolgen tragen diese viele Lebensjahrzehnte mit sich. Diabetes und andere Autoimmunerkrankungen gehen von alleine nicht wieder weg. Kinder sind keine Wählerzielgruppe, entsprechend bemüht sich keine Partei besonders darum, die Luftqualität in den Schulen zu verbessern. Zwei Presseaussendungen in zwei Jahren wie von der Babler-SPÖ reichen nicht. Stärker auf das Thema hingehen raten wohl die Werbestrategen nicht, denn das würde nur der FPÖ nützen, das Totschlagargument in diesem angstgestörten Land. Die Schockstarre vor der FPÖ lähmt jede Vision auf eine solidarischere Gesellschaft in diesem Land.
Je weiter die Akutphase der Pandemie zurückliegt, desto gefestiger werden die unwahren Narrative über Lockdowns, geschlossene Schulen, die Psyche und Suizidanfälligkeit bei Kindern und die Mär von „nach Corona“. Über die Pandemie-Definition der WHO lässt sich trefflich streiten, wie auch die WHO in vielen anderen Punkten lange daneben gelegen ist, aber wie man es auch benennt, vielleicht endemisches Covid auf inakzeptablen Niveau, jedenfalls ist SARS-CoV2 nicht weg, war nie weg und wird nie weg sein.
Ich hab mittlerweile zu vielen umstrittenen Themen lange Grundsatzartikel verfasst. Die Welt ist nicht nur schwarz und weiß – und die Wissenschaft steht nicht am Stand von März 2020, sondern hat sich kontinuierlich fortentwickelt. Als einer der wenigen Durchschnittsbürger im Land ohne biologischen oder medizinischen Hintergrund habe ich den wissenschaftlichen Fortschritt durch die Pandemie hindurch begleitet und damit auch in der endemischen Phase nicht aufgehört. Warum habe ich damit nicht aufgehört? Weil wir – wie es 2022 besonders oft hieß – mit Corona leben müssen, deswegen waren Analysen mit dem Wording „nach Corona“ schon immer Bullshit, und „nach der Pandemie“ heißt heute für viele „Corona ist vorbei„, was genauso Bullshit ist.
Mit Corona leben bedeutet unter den jetzigen Umständen auf unbestimmte Zeit, vielleicht für immer, sich mindestens einmal im Jahr anzustecken, Kinder und Jungeltern auch häufiger. Keine rosigen Aussichten – das wissen alle mit Longcovid, die eigenartigerweise nie bei den Risikogruppen genannt werden, von denen in den Interviews die Rede ist. Dabei zählen sie zur größten Risikogruppe für eine Verschlechterung ihres Gesundheitszustands.
Es ist ausgesprochen traurig, dass wir diese Tiefe der wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht mehr erreichen werden, sondern auf einem sehr jämmerlichen Niveau „huch, ich bin überrascht, dass die Zahlen jetzt schon so hoch sind“ dahindümpeln. SARS-CoV2 zeigte nie eine ausgeprägte Wintersaisonalität wie Influenza oder saisonale Coronaviren, sondern tritt übers Jahr verteilt zu unterschiedlichen Witterungsperidoen in Wellen auf, getrieben durch nachlassende Immunität und neue Varianten. Die Wintersaison würde generell, was alle Infektionskrankheiten betrifft, weitaus schwächer ausfallen, wenn man saubere Luft zum wichtigsten Ziel in Bildungseinrichtungen erklären würde. Stattdessen heißt es „Hände falten, Goschen halten!“ – Infektionen sind schicksalshaft unvermeidbar, weil wir haben die letzten vier Jahre hinter dem Mond gelebt, waren zu Kaffee und Kuchen bei der AGES eingeladen, und wissen leider nicht, dass man dagegen irgendetwas tun kann.