Mittlerweile ist mein erster Beitrag zur Pandemie über fünf Jahre her. Fast alles, was ich damals schrieb, ist leider eingetroffen. Kein Systemwandel, weiter wie bisher, im Gegenteil eher ein weiterer Schritt Richtung Vergangenheit. Nur in einem Punkt muss ich mich korrigieren: Händewaschen bringt gegen Viren nichts, die über die Luft übertragen werden. Das wusste ich damals nicht, bis ich über den Podcast mit Virologe Drosten erstmals davon hörte. Seitdem halte ich eine normale, aber keine übertriebene Handhygiene ein – im Unterschied zu vor der Pandemie hab ich immer ein Fläschchen Desinfektionsmittel einstecken.

Ich habe bis etwa Mitte 2023 einen strikten NoCovid-Lebensstil geführt, der aus konsequentem Maskentragen und Vermeidung von Indoor-Zusammenkünften bestand. Das unglückliche Kennenlernen einer exzessiven Infektionsschutz betreibenden Person hielt mir 2023 den Spiegel vor Augen, wie weit ich diesen treiben wollte und ob es das wert war, zwar gesund zu sein, aber kein Sozialleben mehr zu haben. Seitdem habe ich schrittweise meine strengen Regeln gelockert und seit letztem Jahr gehe ich regelmäßig wieder in Lokale mit anderen essen.

Mein zunehmend lockerer Umgang mit Infektionsschutz ist auch TeamVorsicht nicht verborgen geblieben. Der Vorwurf lautet, ich hätte mich um 180 Grad gedreht, weil ich anders nicht mehr klarkommen würde. Das würde allerdings voraussetzen, dass das Infektionsrisiko immer noch so hoch ist wie in den ersten drei Jahren der Pandemie. Vorab: Ich werde es keiner Person krumm nehmen, die konsequent dran bleibt. Wichtig ist, mit sich selbst im Reinen zu sein, einen modus vivendi gefunden zu haben, den man durchziehen kann. Kommt das Umfeld damit klar? Passt es zum – extrovertierten oder introvierten – Lebensstil? Wie energieraubend ist es, sich immer wieder erklären zu müssen? Hat man sich damit abgefunden, etwas vielleicht nie wieder tun zu können?

Nachfolgend möchte ich erläutern, weswegen ich vom strikten Kurs abgewichen bin, aber nicht aus emotionalen Gründen, sondern weil ich stetig neue wissenschaftliche Erkenntnisse, aber auch eigene Erfahrungen berücksichtige. Ich kam auch im Zuge des folgenden Rückblicks wieder auf neue Perspektiven und Zusammenhänge.

Unterschiedliche Pandemiephasen

Varianten-Entwicklung und zugehörige Impfung, eigene Skizze und Schätzung vor 2022 anhand Abwasserwerte Vorarlberg, Stand 12.01.2025

Im ersten Pandemiejahr war das Infektionsrisiko dank der Maßnahmen gering bzw. hörte ich im Frühjahr 2020 erstmals von Long Covid auch bei zuvor gesunden, jungen Menschen nach milden Anfangsverläufen und blieb schon deshalb lieber vorsichtig. In den ersten Monaten betrieb ich exzessive Handhygiene, ließ aber bald davon ab, als ich erste Studien las, dass das Risiko der Kontaktinfektion übertrieben wurde und diverse Erkenntnisse zur Langlebigkeit von Viren auf Oberflächen unter Laborbedingungen zustandekamen.

Im zweiten Pandemiejahr ließ ich mich dank Hochrisikoattest schon ab März impfen und buchte dafür im Juni einen Kurzurlaub im südlichen Hochschwabgebiet. Damals waren die Fallzahlen durch die Impfkampagne gering und zwei Impfungen schützten noch gegen Alpha. Ich erinnere mich noch, wie die Hotel-Servicekräfte mehrmals sagten, ich müsse keine Maske mehr tragen, ich behielt sie aber trotzdem auf. Wegen der Israel-Daten im Sommer holte ich mir im November eine dritte Impfung, um gegen Delta einen hohen Infektionsschutz zu haben. Ab dann trug ich auch durchgehend FFP2-Masken und experimentierte mit einem CO2-Messgerät von Conrad, das leider völlig falsche (zu hohe) Werte lieferte.

Im dritten Pandemiejahr zerstörte Omicron die Hoffnung auf langlebigen Infektionsschutz durch die Impfung. Ich holte mir im März die vierte Impfung. Viele Bekannte, fast alle Kollegen infizierten sich im Laufe des Jahres mit BA.2 oder BA.5, manche entwickelten Long Covid für mehrere Monate, erholten sich aber wieder vollständig. Ich musste mich im Juli einer Cholezystektomie unterziehen. Das Spitalspersonal hielt die Schutzmaßnahmen nurmehr halbherzig ein, das Aranet4 zeigte über 2000ppm im Zimmer. Zum Glück musste ich nur eine Nacht bleiben. Im Herbst hatte ich zwei Kurzurlaube mit Freunden, jeweils in einer Ferienwohnung. Ich weiß noch, wie unangenehm es für mich war, als wir drinnen aßen, denn draußen gab es um diese Jahreszeit keine Bedienung/Tische mehr. Angesteckt hat sich keiner von uns. Im Herbst infizerte sich ein Freund erstmals nach einem Lokalbesuch und bekam Long Covid (Herzrhythmusstörungen). Und ich infizierte mich beim Weihnachtsbesuch bei meinen Eltern mit einem saisonalen Coronavirus (hCoV-OC43), hielt es aber anfangs für Reflux, den ich bis dato jahrelang immer wieder mal hatte. Beim Silvestertreffen gefährdete ich so unabsichtlich und unwissend meine Bekannten, weil ich die Symptome falsch zuordnete. Erst ein PCR-Abstrich durch meine Sentinelärztin brachte Klarheit. Der Virusinfekt setzte mich drei Wochen außer Gefecht, vor allem der trockene Reizhusten sorgte für viele schlaflose Nächte.

2023: Die Risikobewertung änderte sich

Ich behielt den halbjährlichen Impfrhythmus bei, obwohl es dafür keine Empfehlung für immunkompetente Personen gab und gibt. Einzelne Studien zeigten wiederholt, dass ein zweiter Antigenkontakt förderlich für die Immunitätsausbildung war, den ich mir naturgemäß lieber über die Impfung als die Infektion holen wollte. Immer, wenn ich mir vornahm, nachlässiger zu werden, hörte ich von Bekannten, deren Erstinfektion recht langwierig war. Die Infektionsschutzmaßnahmen wurden weitgehend aufgehoben, obwohl die Viruszirkulation durch SARS-CoV2 hoch war (XBB.1.5-Welle) und die erste starke Influenzawelle durchrauschte. Der Freund mit Long Covid zeigte keine Besserung, was mich emotional sehr mitgenommen hat.

Dann lernte ich diese Person kennen, die behauptete, ein Fan meines Blogs zu sein, aber seltsamerweise das Gegenteil von dem machte, was meine Überzeugung war: Exzessive Handdesinfektion, Augentropfen, Einkäufe desinfizieren, jede Türschnalle nur mit dem Pulli oder Ellenbogen anfassen. Dafür gab es überhaupt keine Evidenz! Ich bekam Vorwürfe, weil ich mich mit anderen im Freien traf „es ist überall ein Risiko“ oder im Büro keine Maske trug. Dabei gab es dort eine Quell-Lüftung und die CO2-Werte waren exzellent niedrig. Wofür die Investition in gute Lüftungen, wenn man trotzdem auf der Maske beharrte? Ich erkannte, wie absurd die Vorstellung war, jede Infektion vermeiden zu wollen und gleichzeitig auch das allerkleinste Risiko (z.B. im Freien oder auf der Türschnalle) noch weiter zu verringern, mit einem Aufwand, der nicht im Verhältnis zum Risiko stand.

Mein Zugang ging noch weiter, denn asymptomatische Infektion („stille Feiung“) war durchaus wünschenswert. Über 70% der respiratorischen Virusinfektionen verlaufen ohne Symptome. Wir bekommen es also gar nicht mit, uns infiziert zu haben, sind aber wieder für eine Weile immun gegen eine weitere Infektion. Nun wusste ich, dass Kontaktinfektion – so sie relevant ist – mit geringeren Virusmengen als Aerosol-Übertragung einherging. So gesehen wäre eine Kontaktinfektion sogar wahrscheinlicher asymptomatisch oder mit sehr leichten Symptomen einhergangen.

Eine weitere Möglichkeit, die Viruslast zu verringern, war in einem gut belüfteten Raum keine Maske zu tragen. So sich ein Infizierter darin befand, sollte mich die „leaky immunity“ schützen (Lind et al. 2023). Deswegen verzichtete ich fortan in unserem gut belüfteten Stiegenhaus darauf. Auch wenn ich alleine im Bus saß, vertraute ich auf meine mehrfachen Impfungen als solide Grundimmunität.

Denn eines war 2022, allerspätestens 2023 klar: No/Zero Covid war gescheitert. Schon Anfang 2022 erklärte Virologe Krammer „Operation Warpspeed ist vorbei!“ Das hieß, die Impfstoffe schützten gegen schwere Verläufe und es gab keinen Bedarf mehr an einer Impfung, die auch langlebig gegen Ansteckung schützte. Ich blieb naiv-optimistisch und hoffte auf die Schleimhaut-Impfstoffe, doch diese blieben meist bei Tierversuchen oder schlugen überhaupt fehl. Was bedeutete das aber für meine Langzeitstrategie? Mich niemals anzustecken?

Im Sommerurlaub 2023 im Salzkammergut verzichtete ich erstmals weitgehend auf die Maske. Meistens aß ich draußen, oder es war morgens nicht viel los beim Bäcker. Nur im Zug setzte ich weiter Maske auf. Beim Freund mit Long Covid fand man die Ursache: Eine unerkannte Lungenembolie verursachte die Herzrhythmusstörungen – Blutverdünner beseitigten die Beschwerden innerhalb von wenigen Monaten, er erlangte bald wieder seine alte Fitness. Auch eine zweite Infektion genau ein Jahr nach der ersten hinterließ keine bleibenden Schäden. Als die Gratis-PCR-Tests von Leadhorizon in Wien abgeschafft wurden, stieg ich mit einer Handvoll NoCovid-Vertretern auf Trinicum um, die aber nur unter der Woche Tests auswerteten. Zudem gab es nur eine Abgabestelle mit Deadline, das war mit Schichtdienst schlicht unpraktikabel. Insgesamt dürfte ich nur so fünf oder sechs Tests eingeworfen haben – rausgeworfenes Geld also. Ich blieb bei Schnelltests und im Bedarfsfall ein Abstrich, den ich durch meine Hausärztin, die am Sentinelsystem teilnimmt, auswerten lasse.

Als die JN.1-Welle über Österreich hereinbrach, blieb ich eher defensiv und kam dank der Impfung davon.

2024

Es wurde ein erkenntnisreiches Jahr für mich. Mir wurde bewusst, wie viel zwischenmenschlichen Schaden mein strenger Infektionsschutz-Ansatz angerichtet hatte. Ich empörte mich über jedes Husten und Niesen, als säße dort eine hochansteckende Person. Ich hatte defacto kein Sozialleben, ich besuchte keine Fortbildungen mehr – und gerade da brachten die inoffiziellen Treffen mir persönlich am meisten, also die Kaffee- und Mittagspausen, der gemeinsame Lokalabend – alles, was ich hätte weglassen müssen, wenn ich konsequent alle Innenräume mied. Das würde meinen Job gefährden. Regelmäßige Fortbildungen waren nun einmal wichtig, ebenso schätzte ich die Kontakte zu Kollegen und Gleichgesinnten.

Dann begann ich auch zu recherchieren über die Übertragungswege bei saisonalen Viren. Es stellte sich heraus, dass die meisten über die Luft übertragbar waren, aber viel weniger ansteckend als SARS-CoV2. Es braucht engen Kontakt, weswegen Eltern und Berufsgruppen mit häufigen, engen Kontakten besonders gefährdet sind. Beides traf auf mich nicht zu.

Im April infizierte ich mich mit dem Rhinovirus, im Septemberurlaub mit dem Parainfluenzavirus Typ I. Beides brachte eine Woche Krankenstand und rund drei Wochen, bis ich wieder fit war, aber eben fit blieb. In beiden Fällen steckte ich mich bei einem Lokalbesuch mit Freunden an. War es das wert? Ja. Sozialleben ist einfach so wichtig. Es definiert uns Menschen. Das sag ich selbst als Autist, der sich sein Alleinsein nicht ausgesucht hat.

Ich lernte über das Jahr hinweg, dass nicht jeder mit Husten, Räuspern oder Niesen ansteckend war, oder überhaupt infiziert. Zunehmend wurde ich ruhiger und saß nicht mehr auf glühenden Kohlen, wenn in der Nähe jemand hustete oder ich in einem vollen Lokal saß. Denn von der Zeit vor der Pandemie wusste ich noch, dass ich schon da über Jahre hinweg selten krank war, obwohl ich regelmäßig mit auf ein Bier ging. Das Aranet4 (CO2-Messgerät) hab ich weiterhin dabei, ich teste bei Symptomen, trage Maske, wenn ich Symptome verspüre (was selten vorkommt) und bleibe krank zuhause. In öffentlichen Verkehrsmitteln, wenn es enger wird, und beim Arzt trag ich immer noch Maske. Von einer 180-Grad-Wende kann keine Rede sein.

Status quo

Ein paar Kernpunkte von TeamVorsicht muss ich leider korrigieren – nach bestem Wissen und Gewissen, und nicht aufgrund kognitiver Dissonanz. Ich kenne weiterhin persönlich Betroffene von Long Covid, ich weiß von den schwerwiegenden Folgen. Und es ist klar, dass das Risiko nie bei Null sein wird.

Die Pandemie ist vorbei

Am 5. Mai 2023 hat die WHO den Internationalen Gesundheitsnotstand beendet. Bis heute wird unrichtig behauptet, sie hätte die Pandemie beendet. Meine Recherche vom Juni 2024 zeigt, dass die WHO Pandemien weder ausrufen noch beenden kann. Ende Dezember 2022 hatte sich Drosten noch geirrt, dass die Pandemie mit dem Winter vorbei sein würde. Im Herbst 2023 gab es einen weiteren Variantensprung mit JN.1 und weltweit starke Infektionswellen. Seitdem ist die Zirkulation aber sukzessive gesunken und es gab keinen weiteren Variantensprung mehr. Pandemien enden medizinisch, wenn die Zahl der akut Erkrankten stark zurückgeht und sie enden sozial, wenn die Furcht vor der Krankheit abnimmt („hat seinen Schrecken verloren“). Beides ist im Laufe von 2023 geschehen. Bei der Pandemiedefinition spielen die Spätfolgen keine Rolle. Das kann man für einen Fehler halten, ändert aber nichts an den Tatsachen.

Wir haben eine breite Bevölkerungsimmunität

Ich habe mich selbst lange Zeit über diese Bevölkerungsimmunität lustig gemacht. Sie bezog sich aber nie auf Ansteckung, sondern auf die Immunität gegen schwere Verläufe und Todesfälle. Auch die Studien zur Hybrid-Immunität waren in Summe eindeutig. Infektionen verbreitern natürlich die bestehende Immunantwort und schützen damit besser gegen Folgeinfektionen mit neuen Varianten (Tarke et al. 2024). Manche Wissenschaftler sprechen nun auch von einer Form von Herdenimmunität, wie zuletzt Drosten im ZiB2-Interview (46min, bis 27.3.2025 verfügbar). Ich habe schon vor ein paar Wochen bei Virologe Ulf Dittmer von der Deutschen Gesellschaft für Virologie nachgefragt. Er antwortete mir sinngemäß:

Vor Corona wusste man nicht, dass die Herdenimmunität zweigeteilt funktionieren kann: Die Antikörperantwort reicht nicht gegen Ansteckung, weil das Virus ständig entkommt durch neue Mutationen. Daher gibt es trotz hoher Seroprävalenz in der Bevölkerung (ein Großteil hat die Infektion bereits durchgemacht oder ist geimpft) weiterhin Infektionen. Doch die T-Zell-Antwort schützt vor (schweren) Erkrankungen auch bei neuen Varianten. Wir haben also eine weitgehende Herdenimmunität auf Zellebene.

  • wer immunsupprimiert ist, ist weiterhin gefährdet
  • T-Zellen schützen nicht zwingend vor Long Covid

Ich hab den Begriff Hybrid-Immunität lange reflexhaft abgelehnt, weil bei mir angekommen ist, es sei wünschenswert, sich zu infizieren. Infektionen sind aber nie erstrebenswert. In einer Welt ohne Schutzmaßnahmen (und das bestimmt die Politik) kommen Infektionen aber vor, ob man das will oder nicht. Und dann ist es sehr wohl eine relevante Erkenntnis, ob sich damit der Schutz vor Folgeinfektionen verbessern kann.

Es ist nicht jeder gleich stark gefährdet

Jede Infektion ist ein Risiko.“ – „Jeder ist vulnerabel.“ – „Jeder ist nach der Infektion vulnerabel.

Das ist so nicht zutreffend. Lange Zeit dachte man, dass Long Covid jeden treffen kann, auch zuvor gesunde Menschen. Es gibt aber bei den meisten Betroffenen Risikofaktoren (Greenhalgh et al. 2024), die man oft aber erst nachträglich herausfand – alleine 72 verschiedene Erkrankungen begünstigen ein erhöhtes Long Covid-Risiko (Pietzner et al. 2024). Es hängt aber nicht nur von Risikofaktoren wie Immundefekten ab, sondern auch vom Impfstatus – in welchem Abstand zur letzten Impfung man sich infiziert, und mit welcher Viruslast man sich infiziert hat. Meine Beobachtung in den letzten Jahren: Es sind jene am laufenden Band krank, die das Risiko aktiv suchen (= eine Feier nach der anderen, viele Flugreisen) oder durch ihre Kinder kaum Chancen haben, es zu umgehen.

Das Long Covid-Risiko ist durch die gestiegene Immunität gesunken – dabei sind drei Faktoren relevant:

  • weniger schwere Verläufe durch gestiegene Immunität (Impfung und Infektion)
  • weniger Infektionen durch Impfung und gesunkene Viruszirkulation
  • mitunter gesunkenes Risiko durch Varianten selbst.

Das ist für all jene, die bereits Long Covid haben, kein Trost. Und in Einzelfällen werden auch weiterhin junge Menschen ohne bekannte Risikofaktoren an Long Covid erkranken. Doch das Risiko für schwere Verläufe und Long Covid nimmt weiter ab.

Die virologische Sackgasse ist kein Mythos

Die JN.1-Variante, auch Pirola genannt – die WHO weigerte sich, einen neuen griechischen Buchstaben zu vergeben, mutmaßlich deswegen, weil mit JN.1 nicht mehr schwere Verläufe auftraten als mit vorherigen Varianten – zeigte eindrucksvoll, dass das Virus im 2023er Jahr noch nicht ausmutiert hatte. Seitdem bewegen wir uns allerdings recht gleichförmig innerhalb der JN.1-Familie, mit nur wenigen neuen Mutationen. Zahlreiche Studien haben seitdem gezeigt, dass es einen Tradeoff zwischen Immunflucht und Infektiösität gibt: Eine Variante, die den Antikörpern besser entkommen kann, ist weniger infektiös. Eine infektiösere Variante kann den Antikörpern schlechter entkommen. Deswegen können sich kaum noch neue Varianten bilden, die an der T-Zellen-Herdenimmunität vorbeikommen.

Gesundheitsschutz steht nicht über allem

Der Schutz von vulnerablen Menschen steht über allem – nicht, dass wir uns falsch verstehen. Und da vulnerable Menschen nicht nur in Alten- und Pflegeheimen oder im Spital leben, sondern Teil der Gesellschaft sind, wäre es natürlich dringend notwendig, den Schutz (= die Menschen) in die Gesellschaft zu integrieren – durch Verhaltensmaßnahmen (krank daheim bleiben, krank Maske tragen) und durch behördlich festgelegte Lüftungsmaßnahmen.

Mein Erfahrungswert liegt nun bei n = 3 Betroffenen, die eine Krebserkrankung oder Organtransplantion hinter sich hatten und trotzdem noch während der Akutphase der Pandemie wieder auf Feiern, Discos und Konzerte gingen. In den Augen von TeamVorsicht besonders schutzbedürftige Menschen, die selbst aktiv das Risiko suchten. Wir haben aber kein Recht, ihnen vorzuschreiben, welches Risiko abzeptabel ist. Das müssen sie – so aufgeklärt – selbst entscheiden.

Ich habe mich sehr lange eingeschränkt, trotz vielfacher Impfung, zuverlässiger Immunantwort und tendenziell keinen oder nur geringen Risikofaktoren. Das Sozialleben ist mir aber abgegangen. Viele Polykrisen, die sich seit der Pandemie aufgetan haben: Ukraine-Krieg, Herausforderung mit Inklusion und nun der Faschismus in den USA und Auswirkungen auf meine Identitätsfindung als wissenschaftsliebender Mensch – das alles alleine bewältigen zu müssen, wäre enorm energieraubend. Das geht nur gemeinsam. Da Covid nun endemisch geworden ist, bleibt dieses Lebensrisiko bestehen. Mit weiteren Impfungen und etwas Vorsicht halte ich mir das klein, aber ich werde es nicht mehr auf Null drücken. Dafür sind mir persönliche Kontakte ohne unerfüllbare Bedingungen (= vor jeder Begegnung testen, nicht in Innenräumen, nur mit Maske) wichtiger.

Es gibt die beschriebenen Nachholeffekte durch die Schutzmaßnahmen

Das war eine meiner schmerzhaftesten Erkenntnisse. Es sind genauer gesagt Lücken an spezifischer Immunität gegen bestimmte Infektionserreger entstanden, nachdem über einen Zeitraum von zwei Jahren Schutzmaßnahmen präsent waren. Dabei geht es nicht nur um wenige Wochen bis Monate Lockdown, sondern auch Maske tragen und vor allem deutlich weniger Reiseverkehr. Tatsächlich wurde ein Rückgang spezifischer Antikörper gegenüber Viren und Bakterien beobachtet (Lorenz et al. 2024). Die Pandemie hat ein unglaublich komplexes und dynamisches System gestört – warum sollte es nach wenigen Jahren bereits zur Baseline zurückkehren? Es ist auch in Ländern mit strengen Maßnahmen wie Neuseeland oder Japan zu starken RSV- oder Streptokokken-Wellen gekommen. Geschädigte Immunsysteme kann man hier also nicht anführen (ausführlich hierzu).

Die starke Influenzawelle hat wahrscheinlich nichts mit Covid zu tun

Current northern hemisphere vaccine components are well matched to circulating 5a.2a and 5a.2a.1 A(H1N1)pdm09 and V1A.3a.2 B/Victoria subclades. The vaccine components appear well matched for the A(H3N2) 2a.3a.1 (J) clade viruses, but less well matched for some of the more recent A(H3N2) subclade 2a.3a.1 (J2) viruses, characterised by S145N, N158K or K189R HA substitutions (alone or in combination). The majority of the A(H3N2) viruses identified worldwide and in Europe since February 2024 belong to the subclade 2a.3a.1 (J2).

ECDC Influenza report, 18.12.2025

Das ECDC hatte schon Mitte Dezember die Vermutung, dass H3N2 die Saison verschärfen könnte. Neben Subclade J werden auch Driftvarianten mit bis zu 3 Mutationen (S145N, N157K oder K189R) im Hemagglutinin (HA) beobachtet, die sogenannte Sublade J1/J2. Diese sind nicht im Impfstoff enthalten, sodass die Neutralisierung herabgesetzt ist.

S145N alleine verringert die Erkennung durch monoklonale Antikörper etwa bei H9N2-Influenza (Ping et al. 2008), K189R erhöht die Virusreplikation bei H1N1 (Ginting et al. 2012). Zu N157K hab ich nichts gefunden, die Mutation wird in Zusammenhang mit der Schweinegrippe erwähnt.

Maßnahmen und Long Covid gehören zusammen

In diesem Punkt werde ich aber ewig einen Missstand in der Kommunikation und Berichterstattung kritisieren: Wer über Maßnahmen spricht, darf nicht nur auf akutes Covid abzielen, sondern muss Spätfolgen miteinbeziehen. Beim oben verlinkten Drosten-Interview stellte Wolf – wohlwollend angenommen – die Fragen des Publikums. Der einhellige Tenor: Es hätte zu viele Maßnahmen gegeben, welche hätte man denn weglassen können? Gegen Ende fragt er, wie das Long Covid-Risiko aussieht, als hätte es mit all dem von vorher nichts zu tun. Hier imponierte mir eine Antwort von Ulf Dittmer in einem früheren Interview:

„Wir haben leider sehr viele Fälle von Long Covid. Das betrifft auch viele junge Menschen, die wir vorher gar nicht als besonders gefährdet angesehen haben. Durch die Impfung wurde die Gefahr dieser Langzeitfolgen stark reduziert. Hätten wir das Virus vorher durch die Bevölkerung wie vorgeschlagen durchrauschen lassen, gäbe es noch viel mehr Fälle von Long Covid.“

Es ging also nicht nur um die Verhinderung von akuten Infektionen, sondern auch um Long Covid. Das fehlt in Österreich weitgehend in der Debatte um pro oder contra von Schutzmaßnahmen.

Epilog

Ich erinnere mich noch daran, wie Infekiologe Günter Weiss im März 2021 im Interview zur ZeroCovid-Strategie abwinkte, das sei realitätsfernes Wunschdenken, das nur von Theoretikern kommen könnte. Damals hab ich die Aussage vehement kritisiert. Heute sehe ich es differenzierter. Man hätte eine No-Covid-Strategie bis zu einer hohen Impfrate (über 90%, wie von Drosten gefordert) fahren sollen, aber sie wäre darüber hinaus nicht aufrechthaltbar gewesen, spätestens mit Omicron nicht, als der Impfschutz unterlaufen wurde. SARS-CoV2 war nicht mehr eradizierbar – laut Drosten sei das schon im ersten Jahr klar gewesen, nachdem sich Corona auch asymptomatisch und präsymptomatisch verbreitet hat. Hier habe ich zu lange einem Wunschdenken nachgehangen, insbesondere mit einer libertärkonservativen Mehrheitsgesellschaft und einer politischen Schieflage nach Rechts. Als eine Petition für ZeroCovid Anfang 2021 gerade einmal 5000 Stimmen bekam, war klar, dass diese Strategie zum Scheitern verurteilt war.

Was ich sehr bedaure ist, dass viele mit Long Covid im engeren und weiteren Umfeld nach ihrer Grundimmunisierung (3 Wildtyp-Impfungen) durch Omicron-Varianten erkrankt sind. Sie waren im Glauben, durch die Impfung geschützt zu sein und die Regierung hat mit Jahresbeginn im Glauben, Omicron sei mild in Bezug auf schwere Akutverläufe, das Virus durchrauschen lassen, die Spätfolgen aber völlig ignoriert. Viele Long Covid-Fälle hätte man verhindern oder abmildern können, wenn der BA.1-Impfstoff wie ursprünglich terminlich anvisiert, bereits im März oder April 2022 zugelassen worden wäre. Schutzmaßnahmen und Risikokommunikation hätte aufrechterhalten sollen bis zum nächsten Impfzeitpunkt. Je mehr man bis zum angepassten Booster „hinübergerettet“ hätte, desto weniger wären noch schwer bzw. chronisch erkrankt.

Meine verbleibenden Masken (die favorisierte FFP3 Rysam wird nicht mehr hergestellt) habe ich inzwischen zu rationieren begonnen. Wer weiß, ob ich sie zur Vogelgrippe-Pandemie nicht noch brauchen werde. Viele Situationen, die vor wenigen Jahren noch Hochrisiko gewesen wären, in dicht besetzten Lokalen, gingen ohne jegliche Ansteckung vorüber – andere respiratorische Viren sind eben deutlich weniger ansteckend ( Mikszewski et al. 2022). Deswegen waren die Schutzmaßnahmen gegen Covid auch so effektiv, um andere Erreger erheblich zu reduzieren. Der Backslash der „Nachholeffekte“ war dadurch aber unvermeidlich und wurde auch schon frühzeitig angesprochen (Hollingsworth et al. 2020, Baker et al., 2020; Oh et al. 2022). Versäumt hat man es, vorzusorgen – vor der Aufhebung der Maßnahmen impfbare Erreger zu impfen mit entsprechenden Kampagnen – und ausreichend Medikamente zu lagern (man erinnere an den Medikamentenmangel 2022/2023 und 2023/2024).

In Summe habe ich sehr, sehr viel Lebenszeit in diesen Blog und die Aufklärung gesteckt, es sind tausende (!) Seiten Material zusammengekommen. Vorbei ist es für mich nicht. Ich bleibe dran. Es gilt auch die Erkenntnisse zu konservieren, um das faschistische Zeitalter zu überdauern. Vorbei ist es auch für viele Long Covid/MECFS-Betroffene nicht, die um Anerkennung und für Therapien kämpfen, die ihr Befinden verbessern statt dauerhaft zu verschlechtern.