
In der Berichterstattung fünf Jahre nach Pandemiebeginn häufen sich wieder die Artikel zum vermeintlichen Erfolg des „schwedischen Wegs“. Was gäbe es eine bessere Gelegenheit als ein neues Buch des schwedischen Chefepidemiologen Anders Tegnell? Dieses erschien pikanterweise als „DerPragmaticus-Edition„, dem rechtslibertären Magazin des verstorbenen Milliardärs Mateschitz (Red Bull, ServusTV), das in der Pandemie und danach als Kritiker der Schutzmaßnahmen und Verharmlosung der Pandemiefolgen aufgetreten ist. Alleine der ideologische Rahmen der Bucherscheinung hätte zahlreiche JournalistInnen misstrauisch machen sollen – stattdessen wurden unkritische Interviews mit Tegnell geführt (Pia Kruckenhauser für den Wochenend-Standard, 22/23.02.25) bzw. dessen Buchinhalte ohne Faktenchecks (Newsflix, Ex-HEUTE Chefredakteur Nusser, 07.02.25) wiedergegeben. Auch andere Zeitungen in Österreich haben Tegnell ohne Hinterfragen abgedruckt.
Was sind die schwerwiegenden Konsequenzen? Warum herrscht diese Sehnsucht in Österreich nach dem schwedischen Weg? Tegnell titelte sein Buch mit „Eigenverantwortung statt Zwang“ – alleine das Wording ist natürlich tendenziös besetzt, wenn man den Schutz seiner Mitmenschen mit Zwang statt Pflicht framed. Zwang ist ein Kampfbegriff der Rechten, die den Meinungsdiskurs gewonnen haben. In den USA regieren jetzt ebenjene Rechten, die mit der Great-Barrington Declaration bis hin zur völligen Verteuflung von Impfstoffen die Pandemie unnötig in die Länge zogen – mit wachsender Impfskepsis und -ablehnung, Diskreditierung der Schutzmasken und der esoterischen Hygienehypothese („Infektionen stärken das Immunsystem“). Durch den ersten Lockdown (alle weiteren kamen mit zahlreichen Ausnahmen) wurde die Härte der Maßnahme in Frage gestellt, weil sie mit signifikanten Freiheitseinschränkungen verbunden war – das öffentliche Leben erlahmte für Monate, vor allem im Dienstleistungssektor und in der Kulturszene waren die Kontaktbeschränkungen existenzbedrohend. Da erschien das schwedische Modell einer schnellen Durchseuchung mit Eigenverantwortung lukrativer. Die gesunde Mehrheitsbevölkerung hätte so weiterleben können wie bisher, die vulnerable Bevölkerung hätte man ein paar Monate abgeschirmt („focused protection„), so die Vorstellung innerhalb Teilen der Bevölkerung, vor allem aber unter Politikern und Journalisten. Die Sehnsucht war da, sich selbst möglichst wenig belasten zu müssen, wer gefährdet war, sollte sich gefälligst selbst schutzen.
Tatsächlich funktioniert dieser Ansatz in einer Pandemie, die alle Bevölkerungsteile betrifft, nicht. Pflegende Angehörige, Kranken- und Altenpfleger haben Kinder. Schulen sind bei jedem Atemwegsvirus Drehscheibe für Infektionsausbrüche. Entgegen dem jahrelangen Narrativ befinden sich vulnerable Menschen nicht nur im Alten- und Pflegeheim. Die meisten älteren Menschen leben hingegen zuhause, werden von Angehörigen versorgt oder müssen sich selbst versorgen. Viele vulnerable Menschen stehen mitten im Leben, mit ihrem Immundefekt, dem Herzfehler oder anderen Autoimmunerkrankungen. Dafür gab es die Risikogruppenfreistellung, die aber geendet hat, bevor die Impfrate hoch genug war, um sie zu schützen. Darüber hinaus gibt es auch vulnerable Kinder, wobei das Multientzündungssyndrom MISC und Long Covid auch gesunde Kinder betraf. Mit anderen Worten: In einer Pandemie müssen alle zusammenhelfen, aufeinander Rücksicht nehmen. Den Zustand einer Demokratie erkennt man daran, wie die Schwächsten in der Gesellschaft behandelt werden.
„Trotzdem kann ich die Maßnahmenplanung nicht ausschließlich daran ausrichten, was für die am meisten gefährdete Gruppe gerade notwendig ist.“
Ex-Gesundheitsminister Rauch im STANDARD-Interview vom 10. März 2022
Die Orientierung am Recht des Stärkeren war der Anfang vom Ende der Solidargemeinschaft. Als die Maskenpflicht zuerst in den Öffis (2022), dann in den Spitälern (2023) aufgehoben wurde, konnten sich die führenden Politiker nicht einmal zu einer Trageempfehlung durchringen. Dadurch wurden die verbleibenden Maskenträger, der Großteil selbst vulnerabel, entmutigt gegen den Strom weiter sich selbst zu schützen. Heute hat das Virus durch die gestiegene Bevölkerungsimmunität seinen Schrecken verloren, doch die falschen Lehren aus der Pandemie sind nach wie vor präsent.
STANDARD-Interview
Das Interview im STANDARD vom 22/23.02.25 erreichte mehr Reichweite als das Nischen-Onlinemagazin von Nusser (Newsflix), daher beziehe ich meinen Faktencheck nun darauf. Die vorgetragenen Argumente sind aber oft ähnlich.
In der Einleitung behauptet die Redakteurin, Schweden sei gut durch die Pandemie gekommen. Zwar hätte es anfangs deutlich mehr Tote gegeben als in den Nachbarländern, doch die gesamte Pandemie einbezogen sei die Übersterblichkeit in Schweden niedriger als in anderen Ländern mit vergleichbarem Wohlstand und ähnlich finanziertem Gesundheitssystem gewesen (Pizzato et al. 2024).
Es gab auch eine Untersuchungskommission von der schwedischen Regierung, weil am Anfang natürlich die ziemlich viele Tote hatten, und da ist rausgekommen, es ist zu spät und zu wenig gehandelt worden. Ich glaube, in späteren Phasen der Pandemie hatte das mehr Vorteile. Am Anfang war es problematisch. Man muss aber auch sagen, dass der schwedische Weg auch in anderen Ländern gegangen wurde. Im Prinzip in ganz vielen Bundesstaaten der USA im Süden unter republikanischer Kontrolle, und das sind die, die eigentlich die meiste Übersterblichkeit während der Pandemie hatten. Also es kommt ganz darauf an, wo, wie und was der Zufall auch will.
Virologe Florian Krammer im Derpragmaticus-Interview, 25.02.25
Die alleinige Betrachtung der Todesfälle greift allerdings zu kurz, da die unter Spätfolgen subsummierten Longcovid-Fälle gesamtwirtschaftlich gesehen einen signifikanten Impact bedeuten (z.B. Wang et al. 2024). So herrscht wissenschaftler Konsens darüber, dass die Impfkampagnen das Longcovid-Risiko verringert haben (z.B. Xie et al. 2024), auch in Schweden (Lundberg-Morris et al. 2023). Das bedeutet im Umkehrschluss, dass in den ersten Infektionswellen vor Ankunft der Impfung, in Schweden eben die Durchseuchung, die meisten und tendenziell schwersten Longcovid-Erkrankungen aufgetreten sind. Das belegen auch Zahlen aus Schweden: Von jungen Erwachsenen sollen 16,5% betroffen sein (Morgensen et al. 2023). Die Zahl für Kinder ist ähnlich, Mädchen sind stärker betroffen (Jiang et al. 2023). Eine Langzeitstudie ergab eine hohe Prävalenz für anhaltende Symptome (Wahlgren et al. 2023). Eine Studie stellte fest, dass ein Jahr nach der Infektion in der ersten Welle immer noch 3% der damals Infizierten im Krankenstand waren (Abzhandadze et al. 2024).
Fakt: Schweden hat unter Tegnell Herdenimmunität angestrebt. Das belegen seine E-Mails und öffentlichen Aussagen.
Behauptung, „wir hätten zu keinem Zeitpunkt eine Herdenimmunität angestrebt, das sei ein völlig falscher Mythos. Das sei ja auch gar nicht möglich – würde man so ein Virus einfach durchrauschen lassen, hätte das desaströse Auswirkungen für das Gesundheitssystem, für die Gesellschaft.“
Wahr ist: Tegnell hat in der Anfangsphase der Pandemie zahlreiche Aussagen öffentlich und im E-Mail-Austausch mit seinen Vorgesetzten getroffen, wo Herdenimmunität angestrebt wurde (Zitatsammlung von Edal Maxwell, 12. August 2020) – siehe auch das E-Mail im Titel.

Dort gab Tegnell am 15. März 2020 zu, dass sie alle Optionen geprüft haben und sich schließlich für Nr. 3 entschieden haben: „Durchseuchung, um eine hypothetische Herdenimmunität zu erreichen„.
Tegnell behauptete weiters, der „Flatten the curve“-Ansatz sei gewählt worden, allerdings in Form von „focused protection“, indem man die Schulen offen ließ und ein Besuchsverbot in Altenheimen beschloss. (Epidemiologe Robert Zangerle, 03.08.20). Im Coronavirus-Update (NDR-Podcast, 12.01.23, 17/20) ging Virologe Drosten auf die Wirksamkeit von „focused protection“ ein, seine Schlussfolgerung ist klar:
„Man kann das nur unter Kontrolle bringen, indem man die Gesamtinfektionen und Übertragungen in der Gesellschaft unter Kontrolle bringt. Man kann nicht selektiv Altersheime schützen.“
Tegnell verweist auf auf gezielte Maßnahmen, um Infektionen einzudämmen. So gab es länger als in Österreich noch eine Begrenzung von Versammlungen auf 50 Personen, flächendeckende Homeoffice-Empfehlung, Anzahl der Gäste in Restaurants beschränken, an Eigenverantwortung appellieren, wenn man sich krank fühlt. Schweden profitierte im Gegensatz zu den anderen europäischen Ländern hingegen von seiner europaweit höchsten Singlequote (52%), wenngleich das Definitionsfrage ist (Partnerschaften mit getrennten Wohnungen, viele ältere Menschen alleine zu Hause). Schulen bzw. Bildungseinrichtungen werden in diesem Zusammenhang allerdings gar nicht erwähnt.
Fakt: Die Übersterblichkeit lag anfangs höher mit der Durchseuchung. Schweden ließ die Skigebiete noch lange offen, ähnlich wie in Österreich.
Aussage: „Die Übersterblichkeit war höher als in Norwegen oder Finnland. Aber sie war vergleichbar mit den Niederlanden, Österreich oder Frankreich. Und niedriger als zum Beispiel in Spanien oder Italien.“
Kommentar: Sollte man sich im Rückblick nicht lieber an den Ländern orientieren, die es besser gemacht haben statt das Niveau nach unten zu nivellieren? Zur Übersterblichkeit selbst kann ich hier nichts beitragen, da ich mich dazu zu wenig auskenne. Epidemiologe Zangerle ist dafür der bessere Ansprechpartner.
Behauptung: Schweden hatte da auch Pech. Als die Pandemie so richtig durchstartete, waren in Schweden gerade Winterferien, eine Million Schwedinnen und Schweden fahren dann auf Urlaub in jene Länder, in denen das Virus damals schon viel stärker verbreitet war. Dadurch hatten wir schon sehr früh wirklich hohe Fallzahlen, und die erste Welle war ziemlich schwierig.“
Von Ischgl, das das Virus anfangs in Europa verteilt hat, war Schweden viel weniger betroffen als seine Nachbarn. Bis 14. März 2020 stammte die Hälfte aller Fälle in Norwegen aus Österreich, in Dänemark war es ein Drittel und in Schweden ein Sechstel (Bericht der Expertenkommission, 12.10.20). In Schweden blieben die Skigebiete ebenso wie in Österreich noch lange offen. Schweden war außerdem durch seine Durchseuchungsstrategie Exporteur des Virus in seine Nachbarländer (Duchene et al. 2021). Die hohen Fallzahlen zu Beginn waren also nicht „Pech“, sondern Folge der späten und zu laschen Reaktion in Schweden selbst: So rieten die Gesundheitsbehörden während der Schulferien Ende Februar vielen davon ab, wegen des berichteten Ausbruchs in Norditalien ihren Skiurlaub abzusagen. Als sie zurückkehrten und fragten, ob sie in Quarantäne gehen sollten, hieß es, es gäbe keinen Grund zur Beunruhigung. Am 7. März fand in Stockholm das Finale für den Eurosongcontest mit 30000 Zuschauern statt. Ab 12. März sollten nur jene mit schweren Symptomen getestet werden (weitere Chronik bei Gretchen Vogel, 06.10.20)
Fakt: In schwedischen Pflegeheimen wurden Patienten euthanasiert, damit sie nicht die Pflegekräfte ansteckten.
Behauptung: Altenheime würden von Gemeinden und sozialen Diensten geleitet, nicht von medizinischem Personal. Es hätte an fachlicher Expertise gefehlt, ebenso an Pandemieplänen oder spezieller Ausrüstung. Zudem seien die Menschen dort sehr alt und wären sowieso bald gestorben. Die hohe Übersterblichkeit sei nicht zum Verhindern gewesen. Das Pflegepersonal infizierte die Bewohner am häufigsten, die konnte man nicht aussperren.
Wahr ist: In Pflegeheimen Göteborgs ließ man Covid-Patienten einfach alleine sterben, um Personal nicht anzustecken. Vielen älteren Patienten wurde Morphium statt Sauerstoff gegeben trotz genügend Vorräten. Lebensrettende Behandlungen sind ohne vorherige Untersuchung und ohne Information der Patienten oder deren Angehörigen verweigert worden (Brusselaers et al. 2022). Durch die offenen Schulen hat sich das Pflegepersonal über ihre Kinder infiziert und so das Virus in die Alten- und Pflegeheime getragen. Ebenso gab es auch keine Maskenpflicht, stattdessen wurde in Spitälern mit Face Shields gearbeitet, die kaum Schutz vor Aerosol-Übertragung bieten (Lindsley et al. 2020). Entsprechend kam es dort zu Ausbrüchen mit Todesfällen.
Entgegen seiner Behauptung leben in den Altersheimen nicht Zehntausend, sondern über 80 000 65jährige und älter. Die durchschnittliche Lebenserwartung ist auch nicht 6-8 Monate, sondern es sterben nur 20% innerhalb von 6 Monaten (Quelle: Library.fes.de)
Fakt: Vorerkrankten Schülern ist kein Heimunterricht erlaubt worden.
Behauptung: Dazu kommt, dass die Versorgung von chronisch Kranken sehr gut organisiert ist. Das erklärt aus meiner Sicht auch, warum die Übersterblichkeit etwa in den USA vier- oder fünfmal höher als in anderen westlichen Ländern war.
Wahr ist: Laut Brusselaers et al. (2021) durften vulnerable SchülerInnen nicht zuhause unterrichtet werden. Die Durchseuchung über die Bildungseinrichtungen gefährdete in erster Linie vulnerable Menschen aller Altersgruppen. Es gab kaum Infektionsschutzmaßnahmen.
Fakt: Vulnerable Gruppen waren durch die Durchseuchung besonders stark betroffen.
PLURV: Die Kritiker hätten den schwedischen Weg nicht ganz verstanden. Und dass es schon sehr bald positive Effekte geben würe. Im Sommer 2020 hätte es niedrigere Infektionszahlen gegeben als in allen anderen europäischen Ländern. Und einmal angekommen hätte man gegen die Sterblichkeit in den Altenheimen nicht viel tun können.
Wahr ist: Tegnell lenkt hier von der Grundaussage ab, dass vulnerable Gruppen am Anfang besonders stark betroffen waren. Von den positiven Effekten nach der Durchseuchung (vermeintlich erzielte Herdenimmunität) haben sie jedenfalls nichts mehr gehabt. Vulnerable Gruppen leben nicht nur in Altersheimen, das erwähnt Tegnell hier nicht (wird aber auch nicht explizit nachgefragt von Kruckenhauser).

Tatsächlich gab es in Schweden höhere Fallzahlen im Sommer als in Finnland und im Herbst explodierten die Infektionszahlen erneut.
Die Behauptung, Schweden hätte niedrigere Infektionszahlen in Bezug auf Gesamteuropa gehabt, stimmt nicht einmal, wenn man Schweden der EU (27 Länder) gegenüberstellt:

Fakt: Die Kinder und Jugendlichen sind in Schweden im Vergleich wahrscheinlich schlechter gesundheitlich durch die Pandemie gekommen als in Ländern mit Lockdowns.
Behauptung: Sie seien im Vergleich besser durch die Pandemie begangen, die Wirtschaft hätte weniger gelitten, die Spaltung der Gesellschaft sei nicht so tief. In Afrika hätten die Schulschließungen desaströse gesellschaftliche Folgen gehabt.
Wahr ist: In Schweden gab es zwar nie einen Lockdown, aber Kinder litten auch unter den Folgen der Infektion selbst oder dass ihre Angehörigen erkranken konnten oder betroffen waren (Interview mit Kinder- und Jugendpsychologe Julian Schmitz, 01/2023).
Indirect data suggest children in Sweden were infected far more often than their Finnish counterparts. The FoHM report says 14 Swedish kids were admitted to intensive care with COVID-19, versus one in Finland, which has roughly half as many schoolchildren. In Sweden, at least 70 children have been diagnosed with multisystem inflammatory syndrome, a rare complication of COVID-19, versus fewer than five in Finland. (Vogel 2020)
Alleine in den USA verloren bis Februar 2022 über 200 000 Kinder unter 18 Jahren ein Elternteil bzw. Angehörige. Mehr als Zwei Drittel der Halb- oder Vollwaisen war unter 13 Jahre alt. In Afrika gab es überhaupt eine sehr hohe Übersterblichkeit in den Infektionswellen und mit Sicherheit nicht nur soziale Folgen für die Kinder und Jugendlichen.
Die Ergebnisse der PISA-Studie zeigen, dass die Kinder nicht von offenen Schulen profitiert haben. Spekulation: Häufigere Krankenstände

In Schweden, wo nur die Oberstufen ins Distance Learning musste, gab es weniger psychische Belastung als mit offenen Schulen, vor allem weniger Diagnosen von Angst und Depressionen (Björkegren et al. 2024). Schulschließungen führen zu einem Rückgang von Mobbing und Suiziden.
Fakt: Tegnell wollte über die offenen Schulen die Wirtschaft am Laufen halten und schneller Herdenimmunität erreichen.
Behauptung: „Aus meiner Sicht war es sehr wichtig, dass die Kinder weiter in die Schule gehen konnten.“
Wahr ist: Better safe than sorry wurde nicht angewandt. Am Anfang war nicht klar, ob Kinder schwer erkranken können und über Langzeitfolgen wusste man noch nichts. “If children don’t go to school their parents need to stay at home and we know of economic calculations that have been given to us that then about 20% of the workforce disappears from the Swedish work market” (Tegnell am 15.04.20)
Als ein finnischer Kollege andeutete, dass laut Modelldaten geschlossene Schulen die Infektionsraten bei den Älteren um 10% senken konnten, antwortete Tegnell mit „Zehn Prozent sind es wert?“.
Fakt: Schweden hat neue wissenschaftliche Erkenntnisse nicht angewandt.
Behauptung: Natürlich kann man immer etwas verbessern. Aber angesichts der Tatsache, dass wir ständig neue Informationen hatten und sich die Lage fast schon täglich änderte, haben wir das recht gut gemacht.
Wahr ist, dass spätestens ab April, Mai 2020 wachsender wissenschaftlicher Konsens über die Luftübertragung von SARS-CoV2 bestand, siehe Drosten-Podcast im April 2020. Im Juli 2020 forderten 239 Wissenschaftler von der WHO, die luftgestützte Übertragung endlich anzuerkennen. Trotzdem empfahlen die schwedischen Gesundheitsbehörden weiterhin Hände waschen und Gesichtsvisiere. Tegnell war außerdem gegen den Einkauf der mRNA-Impfstoffe und wurde von der eigenen Regierung überstimmt (Quelle). Auf die Frage, warum in Schweden im Vergleich zu anderen Ländern so viele Menschen an SARS-CoV2 gestorben sind, antwortete Tegnell so: „Der Impfstoff kam zu früh. Wenn es länger gedauert hätte, hätten die anderen Länder wahrscheinlich aufgeholt” (VI, 17.04.23)
Und ein letzter, trauriger Fakt:
Das Thema Longcovid kommt in diesem Interview überhaupt nicht vor – übrigens auch in vielen anderen Interviews und Lobpreisungen zu Tegnell nicht. Das ist leider hochgradig unseriös, wenn man die globale Prävadenz von Longcovid betrachtet (Übersicht). Da kann man nicht so tun, als hätte es nur Genesene und Verstorbene gegeben, wie es in der Pandemie in Schweden und Österreich suggeriert wurde.
Was viel zu kurz kommt in der revisionistischen Pandemieaufarbeitung ist die zentrale Rolle von Schweden in der Begründung der Great-Barrington-Declaration, deren prominente Vertreter nun die Gesundheitsbehörden unter dem faschistischen Trump-Regime anführen:
06. Mai 2020: Der Gründer der Great-Barrington-Declaration, Martin Kulldorff dankt mit einer E-Mail an den schwedischen Epidemiologen Tegnell (mit Giesecke im CC), dafür, dass er das Herdenimmunitätsmodell in der ganzen Welt verkauft habe: “Thank you for your wise epidemiological sane Covid-19 work. Not only important to Sweden, but as a model for the rest of the world.”
Im April 2020 hatte es einen Erfahrungsaustausch von Tegnell mit Brasiliens Bolsonaro gegeben – Brasilien war besonders schwer getroffen von der Pandemie.
Im August 2020 waren die GBD-Begründer Kulldorff und Bhattacharya bei Präsident Trump. Letzterer beriet auch Indien, das schwer betroffen war.
Am 5. Oktober 2020 wurde die GBD gegründet. In Österreich fand GBD kaum Eingang in die Berichterstattung, obwohl die Regierung (und Opposition) deren Pandemiestrategie nahezu 1:1 umsetzen.
Am 12. Dezember 2020 lud der damalige AGES-Public-Health-Chef Allerberger Tegnell am 14.01.2021 zu einem „Lesson Learned“ ein.
Literaturhinweise:
Der schwedische Weg in Österreich – eine Chronologie
Ausführliche Analysen zum schwedischen Weg in Schweden
Differenzierter Blick auf die Pandemiefolgen bei Kindern und Jugendlichen
Addendum
Auch im Falter-Shop ist eine Rezension zu Tegnells Buch erschienen, dazu auch ein Interview mit Tegnell.
Tegnell: „Ischgl wurde berühmt, nachdem viele Menschen mit einer Covid-19-Infektion zurückkamen, auch in nordische Länder. Damals gingen Bilder aus den Bars um die Welt. Ich erinnere mich an Besucher, die dieselbe Trillerpfeife im Mund hatten. Das erklärt, warum sich die Krankheit so leicht auf so viele Menschen ausbreiten konnte.“
Fakt: Es hatten nicht die Besucher dieselbe Pfeife im Mund, sondern die Kellner. Selbst Hendrik Streeck hat damals noch zutreffend den Übertragungsweg erklärt: Durch die Pfeife gelangen Aerosole in die Luft und diese trafen in den Bars auf ideale Übertragungsbedingungen: enger Kontakt und schlecht belüftet. Was Tegnell hier insinuiert: Schmierinfektion sei der Übertragungsweg gewesen. Dafür gab es aber keine Belege. Hingegen gab es gehäuft Superspreading-Ereignisse bei Chorveranstaltungen (Perg, Skagit Choir, Hamner et al. 2020)
Tegnell: Das Sterben war nicht unserer Corona-Strategie geschuldet. Es war eine gesellschaftliche Schwachstelle: Die Altersheime hätten bessere Krisenpläne haben müssen, Leute besser schulen, bessere Ausrüstung haben müssen. Deshalb konnten sie die Menschen dort nicht ausreichend schützen. Sie haben es wirklich versucht.
Fakt: Wenn man eine Durchseuchungsstrategie im Rest der Bevölkerung fährt, dann funktioniert focused protection schlicht nicht, außer man isoliert die Alten und lässt sie alleine sterben – was auch passiert ist. Alte Menschen benötigen Pflege, haben Angehörige, haben Enkelkinder. Schulen wurden durchseucht.
Tegnell: In diesen Altersheimen beträgt die Lebenserwartung auch ohne Covid-Infektion nur etwa sechs Monate. Ich erwähne das, um zu zeigen, wie alt und gebrechlich die Menschen dort sind.
Fakt: Gerade einmal ein Fünftel der Altenheimbewohner stirbt innerhalb von 6 Monaten (Library.fes.de 2021)
Tegnell: Wir müssen Norwegen und Finnland, vor allem Dänemark, als Ausnahmen in Europa betrachten. Die Pandemie, insbesondere während der ersten Welle, schlug dort ganz anders auf als in jedem anderen Land Europas. Dafür gibt es viele Gründe: Sie haben gute Gesundheitssysteme, sind aber auch nicht sehr dicht besiedelt. Es leben dort auch nicht so viele Menschen aus anderen Ländern.
Fakt: Die Bevölkerungsdichte ist in Dänemark mit 138,5 höher als in Schweden (25,2). Der Urbanisierungsgrad ist ähnlich. Dänemark hat mit 9,22% einen höheren Ausländeranteil als Schweden (8,98%), in Norwegen liegt er bei 11,26% (Quellen: Statista 2019-2021). Über Finnland sagte Tegnell im September 2020: Sie hätten weniger Tote als Schweden gehabt, weil sie weniger Einwanderergruppen hätten.
Tegnell: Wir haben nie versucht, Herdenimmunität zu erreichen. Wir alle wissen, dass man diese nur erreichen kann, wenn man einen sehr guten Impfstoff hat, nicht indem man die Krankheit zulässt. Das würde allen schaden. Wir haben etwas anderes geschafft: eine freiwillige Verhaltensänderung.
Fakt: Das ist eine Lüge. Die rechtsgerichtete Heritage Foundation, auf die das Projekt 2025 der aktuellen Trump-Diktatur zurückgeht, schrieb am 22. April 2020 über Tegnell:
„The ongoing Swedish policy experiment of so-called “herd immunity” is quite unique. Anders Tegnell, Sweden’s chief epidemiologist and architect of the policy, explained that his country’s approach to COVID-19 is “to let the virus spread as slow as possible, while sheltering the elderly and the vulnerable until much of the population becomes naturally immune or a vaccine becomes available.”
Tegnell: Ich habe in Mails über Herdenimmunität mit meinen Kollegen diskutiert. Wir haben darüber gesprochen, ob man mehr oder weniger Maßnahmen ergreifen muss. Herdenimmunität ist nur ein Indikator, der eine Vorstellung davon gibt, was wir tun müssen oder was wir nicht tun sollten.
Fakt: Sehr sehr vages Dementi.
Tegnell: Es fühlt sich wirklich seltsam an, weil wir Covid-19 nie geleugnet haben. Wir waren uns der Gefahr äußerst bewusst und haben hart daran gearbeitet, die Verbreitung so weit wie möglich einzuschränken. Schweden ist extrem impffreundlich. Wir wussten: Es gibt keine schnelle Lösung für eine Pandemie. Es ist ein Marathon, kein Sprint. Und wir waren der Meinung, dass es falsch war, der Bevölkerung immer wieder neue Signale zu senden. So verlieren sie das Vertrauen.
Fakt: Die hohe Sterblichkeit in der ersten Welle widerspricht der Behauptung, hart daran gearbeitet zu haben, die Verbreitung weitgehend einzuschränken.
Tegnell: Das weiß ich nicht. Ich habe den schwedischen Weg definitiv nicht allein entschieden. Wir waren 500 bis 600 Leute, die zusammenarbeiteten. Ich war zufällig am Anfang der Sprecher, und dann kamen im Laufe der Zeit weitere hinzu.
Fakt: Zufälligerweise hatte Tegnell regelmäßige Kontakte mit Kulldorff, Giesecke, Carlson, später auch mit Atlas und weiteren GBD-Gründern.
Tegnell: Weil wir anhand der Daten aus China und Italien schnell sehen konnten, dass Kinder sehr selten erkrankten und nur wenige Covid-19-kranke Kinder in den Krankenhäusern waren. Die Schulen zu schließen, um die Kinder zu schützen, machte also keinen Sinn. Wir konnten aus den Daten auch erkennen, dass Kinder die Krankheit nicht sehr stark verbreiteten. Erwachsene steckten sich gegenseitig an. Wir wissen aber, dass die Schule für Kinder unglaublich wichtig ist. Bildung entscheidet über die Zukunft – gesundheitlich und ökonomisch. Man muss also sehr gute Gründe haben, Kindern die Schulbildung und den Kontakt zu anderen Kindern zu verweigern.
Fakt: Als die WHO die Pandemie ausrief, wurde auch mitgeteilt, dass von 366 infizierten Kindern sechs hospitalisiert werden mussten. Alle Kinder waren vorher gesund. Vier entwickelten eine Lungenentzündung, ein Kind benötigte Intensivmedizin. (Cucinotta and Vanelli 2020). Bei rund 1/5 Kinder und Jugendlichen in Schweden hätten demnach über 32 000 Kinder hospitalisiert werden müssen. Das ist nicht nichts. Ebenso falsch ist die Behauptung, dass Kinder die Krankheit nicht sehr stark verbreiteten, denn Tegnell setzte ja gerade auf offene Schulen, um schneller Herdenimmunität zu erreichen:
„a point would speak for keeping the schools open to reach herd immunity faster“ (14.3.20)
Außerdem waren bis Mai 2020 mehrere Virusausbrüche in Schulen bekannt – Kinder wurden damals nicht getestet. So lässt sich natürlich sehr leicht behaupten, nur Erwachsene würden das Virus verbreiten.
„Ludvigsson wrote to Tegnell that „unfortunately we see a clear indication of excess mortality among children ages 7-16 old, the ages where ‘kids went to school.'“
Tegnell: In vielen Ländern des globalen Südens haben die Maßnahmen mehr Probleme verursacht als die Covid-19-Pandemie an sich. Die Schließung von Schulen und die Tatsache, dass Menschen nichts verdienen konnten, hatten dramatische Auswirkungen -zumal die meisten Menschen in diesen Ländern jung und gesund sind.
Fakt: Die Behauptung bleibt unwidersprochen stehen. In Südafrika gab es eine hohe Übersterblichkeit trotz junger Bevölkerung. HIV-geschwächte Patienten sind hier zu nennen. Die Beta-Variante und die ersten Omicron-Varianten wurden in Südafrika entdeckt, wahrscheinlich auf chronisch infizierte HIV-Patienten zurückzuführen.
Falter: Viele Menschen, die Covid-19 hatten, leiden jetzt an Long Covid oder ME/CFS. Wie groß ist das Bewusstsein hierfür unter Ihren Kollegen und Kolleginnen?
Tegnell: Diese schweren Erkrankungen sind eines der Probleme, die uns die Pandemie hinterlassen hat und die wir sehr ernst nehmen müssen. Die wissenschaftliche Gemeinschaft unternimmt sehr viel, um Lösungen zu finden. Aber es hat sich als sehr schwierig erwiesen, den Leuten bei ihrem Leiden zu helfen. Wir brauchen mehr Forschung -überall auf der Welt.
Fakt: Kein Wort darüber, dass die Durchseuchung vor Ankunft des Impfstoffs für viele Longcovid-Betroffene verantwortlich war.