Während sich die Berichterstattung in Österreich erwartungsgemäß vornehm zurückhält, was den Einfluss der aktuellen Sommer-Coronawelle auf die Olympischen Spiele betrifft*, redet man anderswo bereits Klartext.
Das, was wir derzeit erleben, ist nicht normal und sollte nicht mehr beschönigt werden. Noah Lyles wird kurz vor seinem Lauf positiv getestet und gewinnt die Bronze-Medaille. Die Quittung für seinen Einsatz: Er musste nach dem Rennen im Rollstuhl hinausgefahren werden. Malaika Mihambo holt im Weitsprungfinale Silber, muss aber ebenfalls mit Atemnot im Rollstuhl aus dem Stadion gebracht werden. Alessia Zarbo kollabiert in der letzten Runde des 10km-Finales und bleibt auf der Bahn liegen. Sind das noch sportliche Wettkämpfe oder handelt es sich um Gladiatorenkämpfe des alten Roms?
*So ist im Kommentar des Wochenend-Standards zum finalen Wochenende der Olympischen Spiele kein einziges Wort zu den zahlreichen Coronafällen und -ausfällen unter den Athleten zu lesen. Zu Lyles heißt es in einer kurzen Meldung lapidar „reiste mit Corona ab.“
Update 2: Länder, die Covid stärker eingedämmt haben, gewannen mehr Goldmedaillen als erwartet und umgekehrt bei den Olympischen Spielen (Orchard et al. 2024 preprint)
Der ORF hat einen Bildungsauftrag. Der besteht während (!) einer Coronawelle nicht darin, das Interesse von Verschwörungserzählern zu befriedigen, sondern die Bevölkerung über das zu informieren, was gerade ist und wie man sich schützen kann – über die neuesten Impf-Empfehlungen, dass wir bereits eine deutliche Welle haben ebenso wie über Infektions-Langzeitfolgen.
Problematisch am ZiB2-Beitrag vom 23. Juli 2024 war vor allem der Beitrag vor dem Interview mit Ex-Gesundheitsminister Anschober, aber auch die Fragen von Armin Wolf selbst. Nichts gelernt aus den letzten vier Jahren. Der ORF thematisiert hier anstelle der akuten Infektionswelle die wichtigste Wahlkampfmotivation der Rechtsextremen und kleinerer Parteien, die den kommenden Herbst immer noch als „Denkzettelwahl“ betrachten, und leisten ihnen damit einen Bärendienst.
Zudem warnt inzwischen sogar die Bundesstelle für Sektenfragen in einem Bericht von April 2024 vor der Szene vor extremen Pandemieverschwörungsgruppen.
Warum gibt es überhaupt die ständigen Diskussion wegen „Impfung würde nicht vor Ansteckung schützen“? Weil die öffentliche Kommunikation von Beginn an auf ein Lehrbuchvirus ausgelegt war. Die Bevölkerung würde sich infizieren und dadurch Herdenimmunität erreichen. Die Impfung würde die Pandemie beenden. Doch SARS-CoV2 ist kein Lehrbuchvirus. Es war nur im ersten Jahr relativ stabil und mutierte kaum. Es war Glück, dass zwei Impfdosen noch gegen die Alpha-Variante wirksam waren und Ansteckungen in hohem Maß verhinderten. Mit Delta reichten 2 Impfdosen nicht mehr. Israel setzte bereits im Juli 2021 auf 3 Impfdosen. Die STIKO und das NIG zogen zu spät nach. Die Bundesregierung hatte plötzlich ein Kommunikationsproblem, denn das Narrativ „Für Geimpfte ist die Pandemie vorbei“ geriet in Konflikt mit einer notwendigen dritten Impfdosis. Die Kampagne für die dritte Impfung kam zu spät, der vierte Lockdown war unvermeidlich. Statt die Fehler in der Strategie einzugestehen, kam der populistische „Lockdown für Ungeimpfte“, gefolgt vom Lockdown für alle. Die Regierung hielte am Narrativ „Die Impfung beendet die Pandemie“ fest, weshalb die Impfpflicht beschlossen wurde. In der Delta-Welle, als in den Spitälern mehrheitlich Ungeimpfte lagen. Mit einer Impfpflicht hoffte man, künftige Lockdowns zu verhindern. Mit Omicron ab Dezember 2021 brachten auch 3 Impfdosen keinen ausreichenden Schutz mehr vor Ansteckungen. Auch Geimpfte konnten das Virus übertragen. Aus Sicht der Verhinderung schwerere Verläufe hätte es weiterhin Gründe für die Impfpflicht gegeben, aber nicht mehr als kollektiver Übertragungsschutz.
Diese ganzen Grautöne der Virusentwicklung, insbesondere der Variantenbildung wurde 2021 lange Zeit verharmlosend wiedergegeben und zu spät darauf reagiert. Omicron wurde daraufhin fälschlicherweise als mild geframed, aber das ist eine andere Geschichte und soll ein anderes Mal erzählt werden.
Gesundheitsminister Rauch (Grüne), der eigentlich mit den Nationalratswahlen im Herbst angekündigt hatte, in Pension gehen zu wollen und kürzlich andeutete, vielleicht doch zu verlängern, versagt weiterhin auf ganzer Linie, wenn es um den Schutz der Bevölkerung vor Infektionswellen geht. Längst nicht nur bei SARS-CoV2, sondern auch anderen Infektionskrankheiten mit potentiell tödlichem Ausgang. Über seine Rolle als Verharmloser und Blockierer von sinnvollen Maßnahmen in der Akutphase der Pandemie schrieb ich letztes Jahr schon.
Jetzt hat Rauch neben der verschleppten Einigung über die Gratis-Covidtests bei den niedergelassenen Ärzten, der fehlenden Impfkampagnen und der verzögerten Ausschreibung eines Referenzzentrums für MECFS auch die Beschaffung eines wichtigen RSV-Medikaments (Nirsevimab, monoklonaler Antikörper) für Säuglinge verschlafen.
„Die vergangenen Erkältungssaisonen haben gezeigt, dass RSV auf dem Vormarsch ist und vor allem für Säuglinge schwere gesundheitliche Folgen mit sich bringen kann, die lebensbedrohlich sein können. Mit der RSV-Prophylaxe für Säuglinge stünde uns in Österreich während der Erkältungssaison eine wirksame und sichere Möglichkeiten zur Verfügung, unsere Jüngsten bestmöglich zu schützen. Der Gesundheitsminister hat aus dem Fiasko des vergangenen Winters beim Corona-Medikament Paxlovid leider überhaupt nichts gelernt und die Bestellung verschlafen. Wir Ärztinnen und Ärzte haben eindringlich davor gewarnt, dass Österreich auf den Herbst wieder nicht ausreichend vorbereitet ist.“
Johannes Steinhart, Präsident der österreichischen und Wiener Ärztekammer, 19. Juli 2024 (Presseaussendung)
Die RSV-Impfung für Schwangere ist weiterhin Privatleistung und sehr teuer, die Tests bei Symptomen sind ebenfalls selbst zu zahlen. Das wird in der kommenden RSV-Saison wieder Kleinkindern das Leben kosten und bei überlebenden Säuglingen ihr Risiko für Asthma und Allergien im Erwachsenenalter deutlich erhöhen, und ihre Lebenserwartung verringern (Allinson et al. 2023).
Die aktuelle Infektionswelle scheint viele Fragen aufzuwerfen bei jenen, die sich weiterhin schützen wollen oder bereits infiziert sind. Wissenschaft verändert sich stetig und neue wissenschaftliche Erkenntnisse erfordern geistige Mobilität und Anpassungen. Wir leben nicht mehr im Jahr 2020, wo die Übertragungswege und Präventionsmaßnahmen unzureichend erforscht waren. Es dominieren heute ganz andere Virusvarianten als in der ersten Welle und das erfordert wiederholte Anpassungen des Impfstoffs. Wir sollten auch schon viel weiter sein, was den Umgang mit Infektionskrankheiten an sich betrifft. Stattdessen erleben wir ein öffentliches Verkehrsdesaster in Wien durch mehrere Großbaustellen und zahlreiche Menschen, von Pendlern bis Touristen, die trotz Symptomen in überfüllten Verkehrsmitteln keine Maske tragen. Getestet wird nicht mehr und die bisherige Berichterstattung trägt zur weiteren Verharmlosung bei, während die Krankenstände mitten im Hochsommer in die Höhe schnellen. Muss das noch sein, nach allem, was die Wissenschaft uns die letzten Jahre geliefert hat?
Zu sagen, dass 2024 auch bedeutet, dass wir weniger Todesfälle und schwere Akutverläufe als zu Beginn der Pandemie durch SARS-CoV2 erleben, ist nur ein Teil der Wahrheit. Denn die Aussage übersieht die wachsende Zahl aller anderen Infektionskrankheiten, die das „weniger“ an Krankheit durch SARS-CoV2 mühelos kompensieren. SARS-CoV2 ist zusätzlich da, zur ohnehin schon schweren Infektionskrankheit Influenza, und den zunehmenden Fällen an Keuchhusten, Masern und Streptokokken (u.v.a.). Warum keine Lösung, die Infektionskrankheiten generell reduziert. Warum versuchen wir nicht einmal das und versauen uns schon wieder den ruhigen Sommer, früher auch die ruhigere Zeit in den Arztpraxen und Spitälern, die Zeit der Urlaube statt mit Fieber im Bett zu liegen?
Ich bin mir vollkommen bewusst, dass in diesem Stadium der kollektiven Verdrängung Faktenchecks nichts mehr bringen. Dennoch kann man nach so einem Interview, wie Armin Wolf am 2. Juli 2024 in der ZiB2 mit Virologin Dorothee von Laer, nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Wir reden hier über Dammbrüche, über die Macht der Worte, über Entmenschlichung und über schwerwiegende Konsequenzen.
Die Realitätsverzerrung hat schon in der Vorwoche mit einem STANDARD-Artikel begonnen, wo die Autorin herumlaviert hat, ob es sich schon um eine Welle handelt oder nicht. Eine genaue Definition dafür gibt es epidemologisch offenbar nicht – sie kennzeichnet sich durch einen Anstieg der Neuinfektionen in der Grafik.
„Von einer neuen Covid-Welle kann man dabei in Österreich noch nicht sprechen, zuletzt sind die Werte im Abwasser aber wieder leicht gestiegen,“ und zwei Sätze weiter „Es könnte sein, dass sich die Welle, die sich gerade beginnt aufzubauen, durch die beginnenden Ferien einbremst„.
Der Wendepunkt laut Abwassermonitoring war um den 7. April herum. Seitdem steigen die Abwasserwerte beständig an, ab etwa 5. Mai mit exponentiellem Wachstum. In Inzidenzen ausgedrückt waren das gemäß Kalibrierung mit Sentisurv RLP, CIS, AMELAG, etc. rund 4000 Neuinfektionen pro Tag Mitte April und rund 8000 Neuinfektionen pro Tag Mitte Mai. Seitdem haben sich die Abwasserwerte vervierfacht – die Zahl der Neuinfektionen ist also klar fünfstellig und das hört man auch, wenn man sich im öffentlichen Raum bewegt und sich ein bisschen umhorcht im Bekannten- und Kollegenkreis. Zum Vergleich: In der zweiten Welle (sic!) im Herbst 2020 gab es zu diesem Zeitpunkt bereits einen Lockdown. Fazit: Wir sind bereits in einer Welle!
Der vorläufige Höhepunkt war wohl die Wortmeldung vom PVA-Verwaltungsratsmitglied für die Dienstgeber, Rolf Gleißner, in mehreren Zeitungen:
„Wir hoffen sehr, wenn die Immunabwehr gegen Covid oder Grippe wiederhergestellt ist, dass wir dann wieder zu niedrigen Krankenständen zurückkehren,“
Gleißner entgegnete auf massive Kritik, dass damit die „Nachholeffekte“ gemeint seien, doch welcher Logik folgt das? Für SARS-CoV2 und auch für Influenza gibt es keine anhaltende Immunität, da jährlich ein anderer Virusstrang dominiert und die Immunität durch Impfung und Infektion unterläuft. Ärzte hätten ihm das „unisono“ gesagt, freilich nennt er keine Namen.
„Auch wenn die Krankenstände 2022 und 2023 … gestiegen sind, ist das Niveau langfristig gesehen vergleichsweise niedrig …“
Niedrig? Nicht wirklich. Ein für österreichische Transparenz umfangreiches Dashboard zu Krankenständen, unterteilt in Altersgruppen, Branchen und Art der Erkrankung gibt es seit kurzem.
„Seit der Pandemie sei das Bewusstsein dafür, erkrankt nicht in die Arbeit zu gehen, um niemanden anzustecken, gestiegen. Das sei wiederum für die Betriebe eine große Belastung.“
Kompletter Schwachsinn. Das Bewusstsein ist überhaupt nicht gestiegen, im Gegenteil. Im besten Fall machen jetzt kranke Menschen mehr Homeoffice (schonen sich dadurch aber auch nicht), aber es ist sonst fast schlimmer als vor der Pandemie, es gehen mehr Menschen krank arbeiten und sie müssen das auch, weil es keinen Kündigungsschutz im Krankheitsfall gibt. Es bleiben jedenfalls nicht mehr zuhause, sondern es sind einfach mehr krank. Diese stecken dann ihre Kollegen an und so leidet dann die Wirtschaft unter den steigenden Krankenständen. Würden alle zuhause bleiben mit Symptomen, gäbe es weniger Angesteckte in den Betrieben, also in Summe weniger Krankenstände.
Ja, es ist vorbei als Pandemie. Wir erwarten im Moment eine Sommerwelle in ganz Europa und auch in anderen Teilen der Welt. Noch gelingt es bestimmten Varianten besonders gut, der Immunität zu entkommen. Daher sind wie zurzeit eben Sommerwellen noch möglich. Später wird das für das Virus wohl nur noch im Winter funktionieren. Dennoch: Die Krankheit ist in ihrer Spitze begrenzt durch die breite Immunität in der Bevölkerung. Wir wissen nicht ganz genau, wie häufig ein Erwachsener eine Infektion haben muss, um diese dann gar nicht mehr zu bemerken. Im Moment scheint das noch nicht zu reichen. Viele Leute haben jetzt so zwei, drei oder sogar vier Infektionen hinter sich. Und trotzdem werden sie immer noch krank, wenn sie so eine Variante bekommen. Viele haben noch ein bisschen Fieber und fühlen sich allgemein sehr krank. […] Wir sind jetzt da, wo viele das Virus am Anfang der Pandemie gerne gehabt hätten: bei einer normalen Influenza ungefähr. […]
Siehe restlichen Blogtext. Der Influenza-Vergleich passt nicht. Die Anmerkung, dass man sich noch nicht oft genug reinfiziert hat, damit das Virus milde genug ist, erscheint zynisch angesichts der vielen Betroffenen, deren Leben schon nach einermilden Infektion von der Qualität her vorbei ist. Saisonalität? Warum sind Rhinoviren ganzjährig effektiv? Ich verstehe einiges nicht, was ich ihn gerne fragen würde. Sein Buch hab ich mir übrigens bestellt, weil ich ihn als Wissenschaftler schätze.
Die Infektionszahlen steigen weltweit und auch die Anzahl der Krankenhauseinweisungen steigt gleichzeitig in vielen Ländern, was zumindest eines bedeutet: Die neuen Varianten sind nicht harmloser geworden! Gleichzeitig bleibt die hohe Zahl an bereits betroffenen LongCOVID/MECFS-Patienten und die Gefahr von Verschlechterungen durch Reinfektionen weiterhin ein Thema. In Österreich geht bezüglich MECFS-Awareness immerhin etwas weiter. Nach dem Konsensus-Statement im DACH-Raum (Hoffmann et al. 05/2024) gibt es nun auch einen neuen Praxisleitfaden für Betroffene (Hainzl et al. 06/2024). Für die Psychosomatikfetischisten sei zudem nochmal auf die klaren, anerkannten Diagnosekriterien für MECFS nach IOM und Kanada verwiesen. LongCOVID und MECFS sind KEINE Einbildung – siehe dazu die kürzlich erschienene Veröffentlichung zu LongCOVID-Definitionen.
Weltweit steigen seit Mai und Juni die Abwasserkonzentrationen und – falls verfügbar – auch die Zahl der positiven Tests wieder an. Hawai und San Francisco meldeten sogar Rekordwerte seit Pandemiebeginn. In vielen europäischen Ländern werden zugleich auch Anstiege bei Spitalsaufnahmen verzeichnet. In allen Fällen finden die Wiederanstiege gleichzeitig mit der Dominanz gewinnenden KP.3-Variante statt, welche die Fluchtmutation F456L und die auf Basis von F456L und L455S ACE2-Binding erhöhende Mutation Q493E enthält. F456L war bereits bei EG.5 (XBB.+F456L) enthalten, dann kam BA.2.86 und JN.1 (+L455S) und jetzt ist F456L erneut mit von der Partie.
Für Politik und Gesundheitsbehörden ebenso wie für die Gesellschaft ist die Pandemie dennoch vorbei, obwohl die WHO die Pandemie nie für beendet erklärt hat. Wie passt das zusammen? Läuft die Pandemie noch? Wann wird die WHO das Ende erklären? Kann sie das überhaupt? Selbst wenn wir auf Social Media oder hier auf meinem Blog zum Schluss kommen, dass die Pandemie weiterhin andauert, ändert das leider nichts an der öffentlichen Wahrnehmung und dem Umgang der Staaten mit wiederkehrenden Infektionswellen. Die Frage, ob wir uns weiterhin in einer Pandemie befinden, ist weitaus differenzierter zu eruieren als es mit dem Blick auf das weltweite Infektionsgeschehen beantwortet werden dürfte.
Nach dem massiven Rechtsruck bei der EU-Wahl in Deutschland und Österreich stellt sich für mich die Frage, wie intensiv ich noch dranbleiben kann an der Aufklärung, an ehrenamtlichen Engagement, an der minimalen Hoffnung auf Besserung in naher und ferner Zukunft. Die beiden Presseaussendungen der Bundes-SPÖ zu Luftreinigern in Schulen wuchsen jeweils auf den Mist von Babler, der aber von der Wien-SPÖ dafür keinen Rückhalt hat und vom rechten Flügel um Doskozil erst recht nicht. Sobald Babler im Herbst nicht Platz 1 mit der SPÖ erreicht oder sogar das Hindernis für eine Große Koalition ist, wird Doskozil seinen Platz einnehmen. Zu den anderen Parteien muss man sowieso kein Wort verlieren.
Die Pandemie wurde gesellschaftlich und politisch Anfang 2023 beendet, mit dem Ende des Internationalen Gesundheitsnotstands durch die WHO Mitte Mai 2023 wurde sie auch medizinisch offiziell beendet. Ob die Pandemie epidemiologisch noch existiert, als endemischer Zustand mit zwei bis drei großen Wellen im Jahr dauerhaft sein Unwesen treiben wird, oder ob wir im fünften Pandemiejahr sind, ist eine akademische Diskussion, die in der Öffentlichkeit nicht geführt wird. Mit Juli 2023 wurden alle COVID-Regeln einschließlich Meldepflicht aufgehoben. Im Dezember 2023 folgte eine „Aufarbeitung“ inmitten der hohen JN.1-Welle mit dem Titel „Nach Corona.“ Der Titel sorgte allenfalls für Belustigung unter den Kommentatoren, aber es war natürlich kein Skandal und hatte auch keine weitreichenden Konsequenzen. Der Alltag, Berufs- und Freizeitleben, Massentourismus und Großveranstaltungen – all das hat sich normalisiert. Im Gesundheitswesen wird Infektionsschutz generell ignoriert und die Situation ist schlechter als vor der Pandemie. Corona spielte als Denkzettelmotiv im EU-Wahlkampf eine Rolle, davon profitierte vor allem die FPÖ und die rechtsextreme Liste DNA, im Herbst wird auch die Liste Petrovic profitieren und den Grünen Stimmen kosten. Die Wienerlinien solidarisieren sich zwar mit der Regenbogenparade und zeigten „Ride with pride“ auf ihren Anzeigetafeln am Bahnsteig an, aber Solidarität mit vulnerablen Fahrgästen ist seit der Aufhebung der Maskenpflicht im März 2023 Fehlanzeige – auf Empfehlungen kann man lange Warten. Subjektiv ist es mindestens so schlimm wie vor der Pandemie, eher schlimmer, bezüglich arbeitende Bevölkerung, die trotz Symptomen in in die Arbeit fährt. Die wiederkehrenden Krankheitswellen, die mit Covid, Influenza und RSV nun von Herbst bis Frühling Probleme machen und im Sommer alleine durch Covid, erzeugen keinerlei Bewusstsein für ein Umdenken. Schulungen finden wie selbstverständlich in fensterlosen Räumen statt oder werden in den November geplant, wenn mehrere Infektionserreger zusammenkommen. Luftreiniger stören oder werden gar als Ursache für Erkältungen ausgemacht. Überhaupt völlig weg von der Bildoberfläche sind die Kinder, mittlerweile zigfach infiziert und dauerhustend. Das gehört zur Entwicklung eben dazu, sagt man. Deswegen bleiben Kinder noch lange nicht zuhause, nur weil sie krank sind. Sie könnten ja wichtigen Unterricht oder Schularbeiten verpassen.
Die Bevölkerung hat mittlerweile weder das Interesse noch den Zugang zu öffentlichen Informationen, die sie über die aktuelle Gefahrenlage aufklären. Derzeitige Abwasserwerte sind so niedrig im Verhältnis zu den letzten Peaks, dass man glauben könnte, dass kaum noch Virus zirkuliert, aber es sind immer mehrere tausend Infektionen pro Tag. Was weltweit passiert und dass es immer wieder zu hohen Wellen kommt, kriegt niemand mit, der nicht auf Twitter oder Bluesky mitliest. Ebenso wenig wird die Bevölkerung über die weitreichenden Auswirkungen von LongCOVID informiert, sowohl volkswirtschaftlich, fürs Gesundheitswesen als auch die Lebensqualität der Betroffenen selbst. Und dass man mit regelmäßigen Auffrischimpfungen dieses Risiko deutlich minimieren könnte, wenn man schon keinen Wert auf Maske oder Lufthygiene legt.
Quo vadis? Ich weiß es nicht. Ohne jeglichen Rückhalt ist es als Einzelkämpfer schwer, für Verbesserungen zu werben.
In eigener Sache:
Ich bin nach wie vor auf Ex-Twitter aktiv, auch wenn der Gegenwind von ehemaligen Twitterusern, die jetzt nurmehr auf Bluesky oder Mastodon tätig sind, immer schärfer wird. Man würde den Faschisten Musk damit unterstützen, warum man nicht endlich wechselt. Ich habe dieses Dilemma von Beginn an, als Musk übernommen hat, befürchtet – nämlich, dass die breit auf Twitter vertretene Covid-Community auf verschiedene Plattformen zerstreut wird. Wer seine Stammfollower und Stammfollowende behalten will, muss mehrere Plattformen gleichzeitig bespielen. Nach wie vor ist es so, dass rund 80% der internationalen Wissenschaftler-Community auf Twitter aktiv ist. Über einen Zeitraum von 11 Jahren habe ich mir so Freundschaften und Bekanntschaften aufgebaut, seit Pandemiebeginn zahlreiche wertvolle Inputs von Expertinnen und Experten erarbeitet, auf die ich angewiesen bin, wenn ich weiter seriöse Blogtexte schreiben will. in den ersten drei Pandemiejahren hatte ich aber wesentlich mehr Zeit für Recherchen und Beiträge, weil der Alltag deutlich eingebremst wurde. Jetzt hat sich das Leben wieder normalisiert und damit sind die freien Tage, an denen ich die Muße habe, stundenlang zu recherchieren und Texte zu schreiben, deutlich seltener geworden. Müsste ich meine Recherche jetzt noch von verschiedenen Plattformen holen, würde ich gar nicht mehr dazu kommen, Texte zu verfassen. Ich bleibe daher auf Twitter und unterstütze Musk NICHT durch ein Bezahlabo! Nach wie vor erreichen meine Beiträge eine gewisse Reichweite, die ich mir auf Bluesky erst über Jahre hinweg wieder erarbeiten müsste. Im Gegensatz zu vielen Usern, die es auf Twitter nicht mehr ausgehalten habe, blocke ich offenbar konsequenter Trolle und demokratiefeindliche Antworten weg, und verwende dafür verstärkt Listen, um auch nur das zu lesen, wofür ich mich interessiere.
Derzeit bewegt sich die Anzahl der Neuinfektionen pro Tag geschätzt bei rund 8000. Hoppala, das klingt viel. Im April waren es rund 4000. Wie kommen diese Inzidenzen zustande, wo es schon seit letztem Jahr keine repräsentativen PCR-Tests mehr gibt? Sie basieren auf den repräsentativen Kohorten der ONS/UKHSA (Winter CIS) und der Uni Mainz (SentiSurv RLP), die auch für die Schweiz herangezogen werden. Die Abwasserwerte könnten die realen Inzidenzen ein wenig unterschätzen, was an bestimmten Mutationen seit der BA.5-Welle liegen könnte (Endo et al. 2024). Da SARS-CoV2 in Österreich nicht mehr meldepflichtig ist und Krankenhausdaten stark zeitverzögert aufschlagen, fällt der Wiederanstieg womöglich erst nicht auf – außer, dass die Krankheitswellen wieder zunehmen und Genesungsphasen länger dauern als bei anderen zirkulierenden Viren.
Verantwortlich für die möglicherweise beginnende Sommerwelle sind nicht mehr die bis dato gewachsenen JN.1+FLiRT-Varianten mit den beiden kennzeichnenden Spike-Mutationen F456L und R346T, sondern KP.2 (zusätzlich V1104L) und KP.3 (ohne R346T, mit Q493, deutlich erhöhte ACE2-Bindung). Damit ist aber noch das Ende der Mutationsfahnenstange für dieses Jahr erreicht. Einen Wachstumsvorteil gegenüber KP.3/KP.2 weisen nun Varianten wie LB.1 auf, die neben FLiRT durch eine Deletion gekennzeichnet sind (hier: S:∆S31). LB.1 dürfte ab Mitte Juni in den USA dominant werden. Ihr Anteil steigt weltweit sehr schnell. Auch Rekombinanten von LB.1 mit KP.3/KP.2 wurden schon beobachtet.
Mein uneducated guess ist mit dem jetzigen Stand, dass die Infektionszahlen weiterhin langsam steigen werden, wobei unklar bleibt, wie groß der Einfluss der vermehrten Reisetätigkeit durch die Fußball-EM Mitte Juni bis Mitte Juli sein wird. Richtung August dürfte sich dann wieder die Reiserückkehrer-Aktivität bemerkbar machen. Wie hoch die Sommerwelle ausfällt, traue ich mir aber nicht zu sagen. Molekularmediziner Emanuel Wyler ist sich da auch nicht sicher.
„In so einer lebensbedrohlichen Situation, wo sich alles auf das eigene Überleben verengt, hast du null Verständnis für alles, was außerhalb stattfindet. Trotzdem kann ich die Maßnahmenplanung nicht ausschließlich daran ausrichten, was für die am meisten gefährdete Gruppe gerade notwendig ist. Ich bin schon jemand, der darauf schaut, auch Vorsicht walten zu lassen. Aber Gesundheit in meiner Welt ist nicht nur die Abwesenheit von Covid.”
Gesundheitsminister Rauch im standard, 10. märz 2022
Im Gegensatz zu den letzten Jahren findet nun auch über die österreichische Presseagentur (APA), in den ORF-Journalen, in den ORF-Nachrichten sowie auch in den Regionalzeitungen Berichterstattung zu MECFS und Long COVID in umfangreichen Ausmaß und vor allem regelmäßig statt. Das lässt gewisse Hoffnungsschimmer erkennen, dass es vielleicht in näherer Zukunft einmal zu einem Umdenken kommt. Heute am Internationalen MECFS-Tag gab es eine große Demonstration am Heldenplatz in Wien. Betroffene, Patientenvereine und Spezialisten für diese schwere neuroimmunologische Erkrankung fordern Taten statt nur Gerede.